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Übersicht (Teil 1) mit Unfallkonstellationen:
1. Vorfahrtberechtigter blinkt irrtümlich – fährt dann aber weiter – Unfall mit Wartepflichtigem
2. Passieren an einer Engstelle – wenn es verdammt eng wird
3. Kollision eines einbiegenden Kraftfahrers mit einem auf der Vorfahrtstraße rückwärts fahrenden Müllfahrzeug
4. “Rechts vor links” gilt nicht bei Ausfahrt aus einem verkehrsberuhigten Bereich (“Spielstraße”)
5. Auffahrunfall auf “Abwürger” (beim Anfahren an einer Lichtzeichenanlage)
6. Mithaftung eines “Falschparkers” ?
7. Linksabbieger vs. Geradeausfahrer (in unterschiedlichen Konstellationen)
8. Klassiker “Parkplatzunfall”
9. Auffahrunfall vor Ampel nach Umschalten von Grün auf Gelb (und Konstellation: Bremsen in der Anfahrtphase bei Grün)
10. Auffahren auf einen plötzlich abbremsenden / haltenden Verkehrsteilnehmer / und der “disziplinierende” Bremser
11. Wahlrecht des Linksabbiegers zwischen mehreren weiterführenden Fahrstreifen
12. Kollision mit anfahrendem Müllfahrzeug
13. Haftungsverteilung bei Kollision während des Überholens einer Fahrzeugkolonne
14. Unfall zwischen Überholer und “zu schnellem” Gegenverkehr
15. Unfall zwischen KFZ und Passant / Fußgänger
16. Unfall Autobahn / Überholer vs. Ausscherender (Spurwechsel) / Richtgeschwindigkeit / Betriebsgefahr
17. Auffahrunfall auf einen “Liegenbleiber” auf der Autobahn
18. Die Einfädelungsspur und das Vorfahrtrecht der Fahrspur – oft scheinbar ein “Missverständnis”
19. Linksabbieger vs. Überholer (oder vs. Wendender)
20. Anfahren vom Fahrbahnrand vs. fließender Verkehr und Anfahren vom Fahrbahnrand vs. Fahrstreifenwechsel des fließenden Verkehrs
Und los geht es:
1. Vorfahrtberechtigter blinkt irrtümlich – fährt dann aber weiter – Unfall mit Wartepflichtigem
Hier ist dann in der Konsequenz – je nach Einzelfall – vieles möglich. Die Umstände, auf die es hier bei der Haftungsabwägung ankommt, sind:
Betätigen des Blinkers
Geschwindigkeitsreduzierung
bereits eingeleitete Abbiegeabsicht
OLG München, Urteil vom 15.09.2017, 10 U 4380/16
Vorfahrtsrecht (§ 8 Abs. 1 StVO) und Wartepflicht (§ 8 Abs. 2 StVO) entfallen grundsätzlich auch dann nicht, wenn der Vorfahrtsberechtigte durch missverständliches oder irreführendes Fahrverhalten (hier: Blinken nach rechts und niedrige Geschwindigkeit) einen Vertrauenstatbestand dahingehend schafft, die Fahrwege beider Fahrzeuge werden sich nicht kreuzen (Fortführung OLG München BeckRS 2013, 16306).
Kommt es zu einer Kollision zweier Fahrzeuge an einer Kreuzung,weil der Vorfahrtsberechtigte nach rechts blinkt und mit niedriger Geschwindigkeit (hier: 30 km/h) fährt und der von rechts kommende Wartepflichtige in der irrtümlichen Annahme, der Vorfahrtsberechtigte werde nach rechts abbiegen, losfährt, obwohl beim Losfahren angesichts der Geschwindigkeit und des Abstands des Vorfahrtsberechtigten zumindest objektiv nicht mehr mit einem Abbiegen des Vorfahrtsberechtigten gerechnet werden durfte, so kommt eine
Haftungsverteilung von 75:25 zu Lasten des Wartepflichtigen in Betracht.
OLG München, Urteil vom 15.12.2017, 10 U 1021/17
Die 25-prozentige Mithaftung der Beklagten ergibt sich aus dem nicht zu bestreitenden Umstand, dass der Beklagte zu 1), ohne Abbiegen zu wollen, seinen Fahrtrichtungsanzeiger nach dem insoweit nicht angegriffenen Ergebnis der Beweisaufnahme erster Instanz nicht zurückgestellt und dadurch bei der klägerischen Fahrerin einen Irrtum hervorgerufen hat, der unfallursächlich war (Verstoß gegen § 1 II StVO). Das bloße „Rechtsblinken“ des Beklagtenfahrzeugs beseitigt aber weder dessen Vorfahrtsrecht, noch schafft es ein geschütztes Vertrauen für die klägerische Fahrerin, abbiegen zu können. Die Sorgfaltspflichten des Linksabbiegers wiegen weit höher als eine fehlerhafte Bedienung des Fahrtrichtungsanzeigers, mit der Folge, dass ein Verstoß mit höherem Gewicht in die Abwägung nach § 17 I, II StVG einfließen muss.
Haftungsverteilung von 75:25 zu Lasten des Wartepflichtigen in Betracht.
OLG Hamm, Urteil vom 11.03.2003, 9 U 169/02
Der Senat hält daran fest, dass der wartepflichtige Fahrzeugführer der Ankündigung einer angezeigten Fahrtrichtungsänderung des Vorfahrtsberechtigen erst und nur dann vertrauen darf, wenn der Vorfahrtsberechtigte auch durch eindeutige Geschwindigkeitsherabsetzung und Beginn des Abbiegens die verlässliche Annahme begründet, dass eine Berührung der beiderseitigen Fahrlinien nicht in Betracht kommt, wenn der Wartepflichtige die ursprüngliche und nunmehr hypothetische Fahrlinie des Vorfahrtberechtigten kreuzt.
Bei fehlendem berechtigten Vertrauen des Wartepflichtigen ist eine Haftungsverteilung von ⅔ : ⅓ zu seinen Lasten (des Wartepflichtigen) vorzunehmen.
Quelle: NZV 2003, 414
OLG Dresden, Beschluss vom 10.02.2020, 4 U 1354/19
Der Wartepflichtige darf nur dann auf ein Abbiegen des Vorfahrtberechtigten vertrauen, wenn über das bloße Betätigen des Blinkers hinaus in Würdigung der Gesamtumstände, sei es durch eine eindeutige Herabsetzung der Geschwindigkeit oder aber einen zweifelsfreien Beginn des Abbiegemanövers, eine zusätzliche tatsächliche Vertrauensgrundlage geschaffen worden ist, die es im Einzelfall rechtfertigt, davon auszugehen, das Vorrecht werde nicht (mehr) ausgeübt.
Haftungsverteilung von ⅔ : ⅓ zu Lasten des Wartepflichtigen
Quelle: BeckRS 2019, 39713, beck-online
OLG Dresden, Urteil vom 20.08.2014, 7 U 1876/13
1. Der Wartepflichtige darf nicht blindlings darauf vertrauen, dass der rechts blinkende Vorfahrtsberechtigte auch tatsächlich nach rechts abbiegt, so dass der Wartepflichtige gefahrlos in die Vorfahrtstraße einfahren kann. Vielmehr bedarf es zumindest eines weiteren Anzeichens, das aus Sicht des Wartepflichtigen diesen Schluss zulässt, sei es dass der Vorfahrtberechtigte sich bereits deutlich nach rechts eingeordnet hat oder er seine Geschwindigkeit (ohne sonstigen erkennbaren Anlass) deutlich reduziert.
2. Auch wenn das Fahrverhalten des Vorfahrtberechtigten in diesem Sinn missverständlich ist, ist gemäß § 17 StVG gleichwohl dem Wartepflichtigen regelmäßig ein höherer Haftungsanteil zuzuordnen (im zu entscheidenden Fall: 70:30).
Quelle: IWW → https://www.iww.de/quellenmaterial/id/152030
OLG Karlsruhe, Urteil vom 20.11.2020, 9 U 44/19
Wenn – außer der Vorfahrtsverletzung einerseits und dem fehlerhaft gesetzten Blinker andererseits – keine sonstigen wesentlichen Verursachungsbeiträge der Beteiligten zu berücksichtigen sind, kommt eine
Haftungsquote von 70 % zu 30 % zu Gunsten des Vorfahrtsberechtigten
in Betracht.
KG Berlin, Urteil vom 25.09.1989, 12 U 4646/88
Der wartepflichtige Kraftfahrer darf im allgemeinen darauf vertrauen, daß der sich einer Einmündung oder einer Kreuzung nähernde vorfahrtsberechtigte Kraftfahrer, der den rechten Fahrtrichtungsanzeiger seines Fahrzeugs gesetzt hat, nach rechts in die nächste Querstraße abbiegen wird, wenn sich diese Absicht in seiner Fahrweise äußert.
Kommt es zu einem Zusammenstoß zwischen einem auf der Vorfahrtsstraße befindlichen Kfz, das entgegen der Ankündigung seines Fahrers und dessen Fahrweise nicht nach rechts abbiegt, und dem im berechtigten Vertrauen auf die angekündigte Fahrtrichtungsänderung in die Vorfahrtsstraße einbiegenden wartepflichtigen Kfz,
so kann der Vorfahrtsberechtigte zum vollen Schadensersatz verpflichtet sein.
Quelle: LSK 1990, 240057, beck-online
LG Kiel, Urteil vom 02.12.1999, 7 S 139/99
Der Vorfahrtberechtigte haftet bei irreführender Ankündigung einer Abbiegeabsicht zu 100 %, wenn zusätzlich zum Blinkzeichen besondere Umstände (niedrige Geschwindigkeit und auch schon eingeleitete Abbiegeabsicht) auf den Abbiegevorgang hindeuteten.
Zu Lasten des Wartepflichtigen kann nur die Betriebsgefahr zu berücksichtigen sein. Das grob irreführende Verhalten des Vorfahrtberechtigten, das die entscheidende Unfallursache gesetzt hat, rechtfertigt es, die Betriebsgefahr des klägerischen Pkws völlig zurücktreten zu lassen.
OLG Koblenz, Beschluss vom 01.09.2020, 12 U 332/20
Konstellation = der Abbiegewillige blinkt vor einer Kreuzung, will aber erst 40 Meter nach der Kreuzung auf ein Betriebsgelände abbiegen
Nähert sich ein Fahrzeugführer auf der vorfahrtsberechtigten Straße mit gesetztem rechten Blinker und geringer Geschwindigkeit (ca. 23 km/h an Stelle erlaubter 70 km/h) einer Kreuzung, weil er 40 – 50 Meter hinter der Kreuzung in ein Betriebsgelände einbiegen möchte, und kommt es im Kreuzungsbereich zur Kollision mit einem aus der untergeordneten Straße von rechts herausbiegenden Fahrzeug, dessen Fahrzeugführer angenommen hatte, das sich auf der Vorfahrtsstraße nähernde Fahrzeug wolle an der Kreuzung abbiegen,
sind die Unfallverursachungsbeiträge beider Fahrzeugführer jeweils mit 50% zu bemessen.
Quelle: Beck Verlag . beck-online . BeckRS 2020, 26199
2. Passieren an einer Engstelle – wenn es verdammt eng wird
BGH, Urteil vom 08.03.2022 – VI ZR 47/21
Bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO). Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht.
OLG Schleswig, Beschluss vom 24.4.2020, 7 U 225/19
Wenn eine Engstelle vorliegt, die das gleichzeitige Passieren entgegenkommender Fahrzeuge unmöglich macht, muss eine Verständigung der beteiligten Fahrzeugführer darüber stattfinden, wer die Fahrt fortsetzen soll.
Der Regelungsgehalt des durch das Zeichen 208 angeordneten Vorrangs des gegnerischen Verkehrs erschöpft sich nicht nur auf den Zeitpunkt des Passierens des Schildes sondern gilt auch für den weiteren (noch nicht übersehbaren) Streckenverlauf der Engstelle. Der Wartepflichtige muss ggf. auch durch Anpassung seiner Geschwindigkeit dem vorrangigen Gegenverkehr Rechnung tragen.
3. Kollision eines einbiegenden Kraftfahrers mit einem auf der Vorfahrtstraße rückwärts fahrenden Müllfahrzeug
LG Saarbrücken, Urteil vom 07.10.2016, 13 S 35/16
Kommt es zu einem Verkehrsunfall zwischen einem wartepflichtigen in eine Vorfahrtsstraße einfahrenden Kraftfahrer und einem rückwärts fahrenden Müllfahrzeug, so ist zum einen die Vorfahrtsverletzung des abbiegenden Kraftfahrers als Verstoß gem. § 8 StVO, zum anderen die gem. § 9 Abs. 5 StVO bestehende besondere Sorgfaltspflicht des Rückwärtsfahrenden zu berücksichtigen.
Eine hälftige Haftungsverteilung wird dem unterschiedlichen Gewicht der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nicht gerecht.
Ob einem Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 StVG grundsätzlich ein höheres Gewicht zukommt als einem Verstoß gegen § 8 StVO bedarf keiner abschließenden Entscheidung, wenn (wie hier) die Betriebsgefahr des Müllfahrzeugs aufgrund seiner Größe, seiner Beschaffenheit und der eingeschränkten Beweglichkeit deutlich erhöht war und der Fahrer zudem gegen die Unfallverhütungsvorschriften verstoßen hat, nach denen er sich beim Rückwärtsfahren zwingend eines Einweisers hätte bedienen müssen.
Eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten des Fahrers des Müllfahrzeugs erscheint daher angemessen.
4. “Rechts vor links” gilt nicht bei Ausfahrt aus einem verkehrsberuhigten Bereich (“Spielstraße”)
BGH, Urteil vom 20. November 2007 – VI ZR 8/07
Die besonderen Pflichten des § 10 Satz 1 StVO gelten für den Fahrer, der einen verkehrsberuhigten Bereich verlässt, auch dann, wenn das Zeichen 326 (Ende) nicht unmittelbar im Bereich der Einmündung oder Kreuzung, sondern einige Meter davor aufgestellt ist. Entscheidend ist, ob das Einfahren in eine andere Straße bei objektiver Betrachtung noch als Verlassen des verkehrsberuhigten Bereichs im Sinne des § 10 StVO erscheint. Dies ist in der Regel zu bejahen, wenn das Zeichen 326 nicht mehr als 30 m vor der Einmündung oder Kreuzung aufgestellt ist und keine konkreten Anhaltspunkte eine abweichende Beurteilung rechtfertigen.
Aus den Gründen (zu den einzelnen Optionen):
Ist das Zeichen 326 mehr als 30 m vor der nächsten Einmündung oder Kreuzung aufgestellt, enden die Verpflichtungen aus § 10 StVO in der Re-gel am Aufstellungsort des Zeichens. Dies kann der Fall sein, wenn der verkehrsberuhigte Bereich nur für einen bestimmten Straßenabschnitt angeordnet ist oder sich die nächste Kreuzung oder Einmündung aus anderen Gründen mehr als 30 m hinter dem Aufstellungsort des Zeichens 326 befindet.
…
Auch aus den örtlichen Umständen kann sich ergeben, dass die Ver-haltensanforderungen des § 10 StVO im Bereich der nächsten Einmündung oder Kreuzung nicht gelten. Auch wenn das Zeichen 326 im 30-m-Bereich auf-gestellt ist, kann sich aus dem Ausbau oder der Gestaltung des nachfolgenden Straßenabschnitts ergeben, dass der Kraftfahrer bereits unmittelbar nach dem Passieren des Schildes wieder in den laufenden Verkehr integriert wird. Dann jedoch ist für eine Anwendung des § 10 StVO kein Raum.
Fazit: Im Ergebnis entscheidet sich die Haftung und Haftungsverteilung am Einzelfall.
5. Auffahrunfall auf “Abwürger” (beim Anfahren an einer Lichtzeichenanlage)
LG Berlin, Urteil vom 31.03.2009, 42 O 41/09
Dabei kann dahinstehen, ob der Unfall für die Klägerin ein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG gewesen ist, so dass ihre Haftungsbeteiligung von vornherein ausgeschlossen ist. Auch nach der dann erforderlichen Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile kommt eine Mithaftung der Klägerin für ihre unfallbedingten Schäden nicht in Betracht. Liegt kein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG vor, hängt nach § 17 Abs. 1 StVG die Verpflichtung zum Schadensersatz wie auch der Umfang der Ersatzpflicht von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Im Rahmen der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge unter Berücksichtigung der von beiden Kraftfahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr sind nach der ständigen Rechtsprechung neben unstreitigen und zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises Anwendung finden (s. zur Abwägung nur Hentschel, Straßenverkehrs-recht, 40. Aufl., § 17 StVG, Rdnr. 4 m. w. N.).
Bei der gebotenen Abwägung ist maßgebend, dass der ehemalige Beklagte zu 1. unstreitig auf das Klägerfahrzeug aufgefahren ist. Im Falle eines Auffahrunfalls spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Auffahrende entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten oder sein Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrssituation angepasst oder es an der erforderlichen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen (KG NZV 2003, 43 f). Somit kommt eine Mithaftung der Klägerin nur in Betracht, wenn die Beklagte zu 2. deren ursächliches Mitverschulden am Unfall darlegen und beweisen kann. Daran fehlt es aber. Zwar ist die Klägerin mit ihrem Fuß von der Kupplung abgerutscht und damit auch nach ihren Angaben nicht weiter angefahren. Diese Fallkonstellation ist jedoch nicht der Situation gleichzustellen, wo nach dem Anfahren ein Verkehrsteilnehmer plötzlich über das übliche Maß hinaus unerwartet grundlos bremst, § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO. Vorliegend ist es auch nach dem Vorbringen der Beklagten zu 2. noch im Moment des eigentlichen Anfahrens zum Zusammenstoß der Fahrzeuge gekommen. Sie hat dargelegt, dass das Klägerfahrzeug vor dem Unfall 2-3 m nach vorne gefahren ist. Da das Fahrzeug während dieser Fahrtstrecke geruckelt haben soll, war somit für die nachfolgenden Fahrzeuge auch ohne Aufleuchten der Bremslichter hinreichend deutlich, dass der Anfahrvorgang gestört ist. Zwar ist zutreffend, dass nach dem Anhalten vor einer Ampel mit verkürztem Abstand angefahren werden darf, jedoch erst dann, wenn die beteiligten Fahrzeuge wieder Fahrt aufgenommen haben, woran es vorliegend fehlt. Solange sich die Fahrzeuge noch im unmittelbaren Anfahrvorgang befinden, ist der gebotene Sicherheitsabstand einzuhalten, weil erfahrungsgemäß Fahrzeuge aus den verschiedensten Gründen nicht zügig anfahren können und der kaum begonnene Verkehrsfluss oft wieder ins Stocken gerät (KG VRS 46, 66; OLG Bremen, VersR 1977, 158f). Somit ist im Ergebnis von einem derart überwiegenden Verschulden des ehemaligen Beklagten zu 1. am Unfall auszugehen, dass das geringfügige Verschulden der Klägerin beim Anfahren haftungsrechtlich außer Betracht zu bleiben hat.
Ergebnis: Auffahrende(r) haftet zu 100 %
Aber … es geht auch anders:
LG Hagen vom 12.12.2011, 7 S 100/12
Die Klägerin hat sich im Rahmen der hier zu bildenden Haftungsquote zumindest einen schuldhaften Verursachungsbeitrag von 25 % entgegen halten zu lassen. Sie hat nämlich fahrlässig gegen § 1 II StVO verstoßen, indem sie sich mit ihrem Fahrzeug zunächst ca. einen halben Meter vorwärts bewegt hat und ihr beim Anfahrvorgang sodann der Fuß von der Kupplung gerutscht ist, so dass der Motor aus ging und das Fahrzeug stehen blieb.
Darüber hinaus teilt die Kammer auch die Auffassung des Amtsgerichts, dass das Verschulden der Klägerin nicht vollständig hinter den Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1) zurück tritt. Die von der Berufung zitierte Entscheidung des Landgerichts Berlin (vgl. Urt. v. 31.03.2009 – Az. 42 O 41/09, Schaden-Praxis 2010, 70) ist auf den vorliegenden Fall nicht eins zu eins übertragbar. Das Kammergericht hat im Rahmen der vorgenannten Entscheidung, der eine ähnliche Unfallkonstellation wie hier zu Grunde gelegen hat, bei der Frage, ob und wie die Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten zu berücksichtigen sind, eine Gesamtbewertung der maßgeblichen Umstände vorgenommen. Dabei hat das Kammergericht zum Einen richtigerweise ausgeführt, dass nachfolgende Fahrzeuge auch im Vorgang des Anfahrens an einer Lichtzeichenanlage oder sonstigen Kreuzung den jeweils gebotenen Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug einzuhalten haben. Zum Anderen hat das Kammergericht aber auch die Feststellung treffen können, dass sich das vorausfahrende Fahrzeug der dortigen Klägerin ca. 3 m ruckelnd vorwärts bewegt habe, bevor es zum Stillstand gekommen ist. Daher sei für nachfolgende Fahrzeuge auch ohne Aufleuchten der Bremslichter hinreichend deutlich gewesen, dass der Anfahrvorgang gestört ist. Aus diesen beiden wesentlichen Erwägungen heraus hat das Kammergericht in dem konkret zu entscheidenden Einzelfall ein geringes Verschulden des vorausfahrenden Fahrzeugführers haftungsrechtlich außer Betracht gelassen.
Für die Kammer ist ebenfalls von wesentlicher Bedeutung, ob sich der nachfolgende Fahrzeugverkehr darauf einstellen konnte, dass sich bei vorausfahrenden Fahrzeug Probleme in Anfahrvorgang ergeben. Im hier zu entscheidenden Fall ging das Abrutschen von der Kupplung und der daraus resultierende Stillstand von Motor und Fahrzeug für den Beklagten zu 1) – im Gegensatz zur Entscheidung des Kammergerichts – ohne erkennbare Vorwarnung einher. Die Klägerin hat in persönlicher Anhörung erklärt, dass ihr vor der Betätigung des Gaspedals der Fuß von dem Kupplungspedal gerutscht sei, so dass das Fahrzeug nach einem halben Meter Wegstrecke zum Stillstand gekommen sei. Der Kammer ist aus eigener Erfahrung bekannt, dass der Motor eines Kraftfahrzeugs bei einer solchen Fehlbedienung unmittelbar ruckartig aus geht. Ein längeres Ruckeln des Fahrzeugs, das für nachfolgende Fahrzeugführer erkennbar wäre, entsteht dabei nicht. Auch hat sich das klägerische Fahrzeug nach dem unstreitigen Sachvortrag der Parteien nicht mehrere Meter ruckelnd vorwärts bewegt. Daher ist es im vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt, den Verschuldensbeitrag der Klägerin vollends außer Acht zu lassen.
Ergebnis: “Abwürger” haftet zu 25 % mit
Ähnlich und mit gleicher Quote:
AG Frankenthal, Urteil vom 07.09.2017, 3a C 140/17
6. Mithaftung eines “Falschparkers” ?
AG Überlingen, Urteil vom 20.03.2018, 1 C 94/17
Entsteht beim Ausparken aus einer Parkbox ein Schaden an einem Fahrzeug, das behindernd und entgegen der Fahrtrichtung in einer Zu- und Abfahrt parkt, trifft dessen Fahrzeugführer eine Mithaftung von 20 %.
Quelle: beck-online / LSK 2018, 48659 / SVR 2020, 394
LG Kiel, Urteil vom 27.09.2001, 7 S 64/01
Ein Verstoß gegen das absolute Halteverbot führt bei engen Straßenverhältnissen i. d. R. zumindest zu einer Mithaftung in Höhe der einfachen Betriebsgefahr, ein die Mithaftung auschließendes, unabwendbares Ereignis liegt dann für den Halter und/oder Fahrer des verbotswidrig abgestellten Fahrzeuges nicht vor.
Quelle: beck-online / LSK 2002, 370166 / DAR 2002, 318
AG Hildesheim, Urteil vom 20.12.2000, 18 C 529/00
Nach einer Koalition mit einem verbotswidrig abgestellten Fahrzeug kommt für dessen Halter ausnahmsweise eine Mithaftung nicht in Betracht, wenn das verbotswidrig abgestellte Fahrzeug ohne Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer geparkt war und das Fahrzeug bei Tageslicht für jeden anderen Verkehrsteilnehmer ohne weiteres erkennbar gewesen ist.
Quelle: beck-online / LSK 2002, 370174 / DAR 2002, 322
LG Saarbrücken, Urteil vom 13.11.2020, 13 S 92/20
“Falschparken” an Bushaltestellen
Das Haltverbot an Bushaltstellen nach § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Zeichen 224 (Anl. 2) betrifft nicht nur die Fahrbahn der Haltestelle, sondern auch den angrenzenden Seitenstreifen, um neben dem Schutz der ein- und aussteigenden Fahrgäste auch ein gefahrloses Ein- und Ausfahren seitlich ausschwenkender Busse zu gewährleisten.
Quelle → LG Saarbrücken Falschparken an Bushaltestelle
LG Hamburg, Urteil vom 21.08.2020, 306 O 207/19
Mithaftung eines verbotswidrig abgestellten KFZ ? Ja, das kann sein !
Wird verbotswidrig geparkt, ist häufig ein Haftungsanteil des Halters des abgestellten Fahrzeuges gerechtfertigt, wobei der Umfang letztlich aber auch hier vom Verursachungsbeitrag des Unfallgegners abhängt und sich bei groben Verkehrsverstößen ermäßigt. Bei der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass der aktiv durch Fahren handelnde Verkehrsteilnehmer ein verkehrswidrig parkendes Fahrzeug in der Regel wahrnehmen und bei entsprechender Aufmerksamkeit einen Zusammenstoß verhindern kann. In einer solchen Konstellation überwiegt grundsätzlich sein Verursachungsanteil gegenüber dem des Halters des parkenden Fahrzeugs. Entscheidend ist also, ob die Wahrnehmbarkeit des parkenden Kfz beeinträchtigt ist und in welchem Umfang das verbotswidrig parkende Fahrzeug ein Hindernis für den fließenden Verkehr darstellt (Walter, Spickhoff, BeckOGK StVG, Stand: 1.9.2019, § 17 Rn. 102; vgl. auch König, Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 12 StVO Rn. 63 sowie Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 16. Aufl. 2020, Ziff. A. Rn. 294).
Das absolute Halteverbot diente vorliegend den Interessen des fließenden Verkehres, so dass dessen Schutzzweck sich auch auf den vorliegenden Sachverhalt erstreckte. In der Straße K. Allee befindet sich im Unfallbereich eine breitere Verkehrsinsel zwischen den beiden Spuren, wodurch bereits baulich die jeweilige Fahrbahn begrenzt und verengt wird. Durch das angeordnete Halteverbot soll die verengte Spur von zusätzlichen Behinderungen durch haltende und parkende Fahrzeuge freigehalten werden. Das klägerische Fahrzeug hat die dem gleichgerichteten Verkehr verbleibende Spurbreite erheblich verengt. Insofern ist auch beachtlich, dass es sich bei dem klägerischen Fahrzeug um ein im Vergleich etwa zu einem Kleinwagen breiteres SUV handelte. Überdies ist zu beachten, dass die K. Allee gerichtsbekanntermaßen relativ stark frequentiert und die Parkplatzsituation dort angespannt ist. Der Unfallbereich wird noch dadurch unübersichtlich, dass der Fußgängerverkehr die Verkehrsinsel zum Überqueren der Straße nutzt, so dass ein Fahrzeugführer beim Passieren auch hierauf zu achten hat. Das im Halteverbot abgestellte klägerische Fahrzeug stellte nach der konkreten Lage eine Gefährdung für den fließenden Verkehr dar, indem es andere Fahrzeugführer zu einem fehleranfälligen Durchfahren der Engstelle zwang.
Ergebnis:
Das klägerische Fahrzeug stellte in der konkreten Lage eine nicht unerhebliche Erschwerung des fließenden Verkehrs dar – was zu einer Mithaftung von 20 % (einfache Betriebsgefahr).
OLG Schleswig, Urteil vom 30.03.2022 – 7 U 139/20
Rückwärtsausparker vs verbotswidrig abgestelltes KFZ (welches auch noch behindert) = Haftungsquote (hier) 90 zu 10 Prozent
Grobes Verschulden und etwas höhere Betriebsgefahr führt hier zu 90-%-Haftung des Rückwärtsausparkers.
Und das OLG Schleswig führt auch noch aus:
Die klägerische Haftung für die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs aus § 7 Abs. 1 StVG ist vorliegend nicht dadurch beseitigt, dass sein Fahrzeug parkend abgestellt war. … Das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ ist entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Denn die verschuldensunabhängige Haftung ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, wenn also im Rahmen einer wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit) geprägt worden ist (vgl. , , Urt. v. 21.1.2014 – VI ZR 253/13NZV 2014, 207).
Ein parkendes Fahrzeug ist hiernach noch „in Betrieb“, wenn es am Fahrbahnrand oder auf einem Seitenstreifen abgestellt wurde, jedenfalls dann wenn es – wie hier – verbotswidrig abgestellt wurde (vgl. , , Urteil vom 27.10.1989 – 10 U 125/89NZV 1990, 189; BeckOGK/Walter, 1.9.2019, StVG § 7 Rn. 94).
7. Linksabbieger vs. Geradeausfahrer (in unterschiedlichen Konstellationen)
⇒ Linksabbieger fährt bei “Gelblicht” in den Kreuzungsbereich ein
OLG Hamm, Urteil vom 30.05.2016, 6 U 13/16
Ein Wechsel der Lichtzeichen einer Lichtzeichenanlage von Grün- auf Gelblicht ordnet an anzuhalten,
wenn dies mit normaler Betriebsbremsung möglich ist.
Gegen diese Regelung verstößt schuldhaft, wer nach einem Wechsel der Lichtzeichen von grün auf gelb mit einem Sattelzug in den Kreuzungsbereich einfährt, obwohl ihm mit normaler Betriebsbremsung ein Anhalten zwar erst jenseits der Haltelinie, aber noch vor der Lichtzeichenanlage möglich ist.
⇒ Erhöhung der Haftungsquote bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den Geradeausfahrer
KG Berlin, Beschluss vom 31.05.2010, 12 U 105/09
Im Falle einer ungeklärten Ampelschaltung ist grundsätzlich von einer hälftigen Schadensteilung auszugehen (vgl. BGH NJW 1996, 1405; Senat KGR Berlin 2003, 7). Vorliegend hat das Landgericht aber den Haftungsanteil der Beklagten zu Recht auf 2/3 erhöht, weil der Beklagte zu 1) mit einer um 10 km/h überhöhten Geschwindigkeit in die Kreuzung eingefahren ist und dies nach den Feststellungen des Sachverständigen auch mit unfallursächlich war. Eine weitere Erhöhung der Haftungsquote kommt auch nach Ansicht des Senats nicht in Betracht. Das Landgericht hat deshalb die unfallursächliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Rahmen der Abwägung der Haftungsquoten ausreichend berücksichtigt.
⇒ Kollision eines mit erheblich überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Vorfahrtsberechtigten mit einem wartepflichtigen Linksabbieger
LG Neubrandenburg, Urteil vom 08.05.2009, 12 O 28/09
Ein vorfahrtberechtigter Motorradfahrer, der mit erheblich erhöhter Geschwindigkeit (100 km/h statt erlaubter 50 km/h) innerorts an einer Kreuzung mit einem entgegenkommenden wartepflichtigen Linksabbieger, kollidiert, haftet zu 2/3.
KG Berlin, Urteil vom 22. 8. 2019, 22 U 33/18
Wird die höchstzulässige Geschwindigkeit um mehr als das Doppelte überschritten und liegt die Geschwindigkeit innerorts absolut über 100 km/h, ist ein besonders schwerer Verkehrsverstoß gegeben, der in der Regel zu einer Alleinhaftung führt, auch wenn der Handelnde an sich die Vorfahrt hat.
Quelle: Leitsatz aus recht+schaden 2019, 652
LG Saarbrücken, Urteil vom 10.11.2023, 13 S 33/23
Anscheinsbeweis bei Zusammenstoß zwischen Linksabbieger und entgegenkommendem Motorradfahrer
1. Kommt es in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Abbiegen zu einem Zusammenstoß zwischen dem Abbiegenden und dem entgegenkommenden Verkehr, spricht grundsätzlich bereits der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verstoß des Abbiegers gegen § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO
2. Der gegen den Linksabbieger sprechende Anscheinsbeweis kann erschüttert sein, wenn
die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass der Vorfahrtsberechtigte bei Beginn des Abbiegemanövers für den Wartepflichtigen noch nicht sichtbar gewesen ist oder zumindest so weit entfernt gewesen wäre, dass der Abbiegende eine Gefährdung als ausgeschlossen erachten durfte. Dies kann grundsätzlich der Fall sein, wenn der Vorfahrtsberechtigte sich mit überhöhter Geschwindigkeit nähert oder wenn er einen Vorausfahrenden, der wiederum links abbiegt, ohne angemessenen Seitenabstand, unter Verlassen der Fahrbahn oder bei unklarer Verkehrslage rechts überholt.
3. Nicht zu einer Erschütterung des Anscheinsbeweises führt der Fall,
dass der Linksabbieger lediglich wegen vorhandener Sichthindernisse den Gegenverkehr nicht überblicken kann. Ausgehend davon, dass jeder Linksabbieger sich vor Einleitung des Abbiegevorgangs vergewissern muss, dass er den Abbiegevorgang so rechtzeitig und vollständig abschließen kann, dass er keine Gefahr für den (gesamten) Gegenverkehr darstellt, trifft den Abbieger, dem die Sicht auf den entgegenkommenden Verkehr ganz oder teilweise genommen ist, vielmehr eine gesteigerte Sorgfalts- und ggf. Wartepflicht.
8. Klassiker “Parkplatzunfall”
BGH, Urteil vom 22.11.2022, VI ZR 344/21
Die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO (“rechts vor links”) findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt.
Aus den Gründen:
… (2) Ein Parkplatz ist dagegen – als Ganzes betrachtet – keine Straße, sondern eine Verkehrsfläche, die – vorbehaltlich spezifischer Regelungen durch den Eigentümer oder Betreiber – grundsätzlich in jeder Richtung befahren werden darf. Parkflächenmarkierungen, die den Platz in Parkplätze und Fahrspuren aufteilen, ändern für sich genommen daran nichts, so dass durch solche Markierungen entstehenden Fahrbahnen – wie allein durch die tatsächliche Anordnung der geparkten Fahrzeuge gebildeten Gassen – kein Straßencharakter zukommt (vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 29. April 1977 – 1 U 175/76 , juris Rn. 26; OLG Köln, VRS 48, 453, 454 f.; OLG Koblenz, VRS 48, 133, 134 [OLG Koblenz 06.06.1974 – 1 Ws (a) 272/74] ; OLG Stuttgart, VRS 45, 313, 314). Die auf Parkplätzen vorhandenen Fahrspuren dienen zudem typischerweise nicht – wie es der Zweckrichtung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO entspräche – der möglichst zügigen Abwicklung des fließenden Verkehrs, sondern der Erschließung der Parkmöglichkeiten durch Eröffnung von Rangierräumen und der Ermöglichung von Be- und Entladevorgängen, wobei die Fahrbahnen regelmäßig sowohl von Kraftfahrern als auch Fußgängern genutzt werden. Eine Bejahung des Straßencharakters und damit eine – dann unmittelbare – Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO kommt daher auf Parkplätzen nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn sich durch die bauliche Gestaltung der Fahrspuren und die sonstigen örtlichen Gegebenheiten für den Verkehrsteilnehmer unmissverständlich ergibt, dass die Fahrbahnen nicht der Aufteilung und unmittelbaren Erschließung der Parkflächen, sondern in erster Linie der Zu- und Abfahrt und damit dem fließenden Verkehr dienen.
(3) Fehlt es an einem solchen eindeutigen Straßencharakter, kommt auf öffentlichen Parkplätzen auch keine entsprechende oder mittelbare Anwendung der Vorfahrtsregel “rechts vor links” im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO in Betracht. Anders als § 9 Abs. 5 StVO (vgl. dazu Senatsurteile vom 15. Dezember 2015 – VI ZR 6/15 , NJW 2016, 1098 Rn. 11; vom 26. Januar 2016 – VI ZR 179/15 , NJW 2016, 1100 Rn. 11; vom 11. Oktober 2016 – VI ZR 66/16 , NJW 2017, 1175 Rn. 9) enthält die auf den fließenden Verkehr zweckgerichtete Vorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO keine Wertung, die auf die Situation auf Parkplätzen übertragbar wäre. Der fließende Verkehr ist auf das Vorwärtskommen gerichtet, der Verkehrsfluss soll nach Möglichkeit nicht gestört werden. Dagegen wird, wie schon ausgeführt, auf einem Parkplatz das allgemeine Tempo durch den Park- und Verladebetrieb bestimmt, der einer zügigen Fahrweise entgegensteht. Die auf einem Parkplatz aufgrund der erforderlichen Rücksichtnahme auf ein- und ausparkende Kraftfahrer und die Fahrbahnen nutzende Fußgänger gebotene geringe Geschwindigkeit der Fahrzeuge erfordert keine strengen, automatisch anwendbaren Vorfahrtsregeln. Der Sicherheit ist es in der typischen, durch Ablenkungen von der Beachtung des Verkehrsflusses geprägten Situation auf einem Parkplatz dienlicher, wenn die sich begegnenden Fahrzeuglenker aufeinander Rücksicht nehmen und über die Vorfahrt verständigen müssen (vgl. zu den insoweit vergleichbaren Verhältnissen auf einem nicht öffentlichen Parkplatz Senatsurteil vom 9. Oktober 1962 – VI ZR 249/61 , NJW 1963, 152, 153; zum öffentlichen Parkplatz OLG Stuttgart, VRS 45, 313, 314).
Dass diese Verständigung entsprechend der Behauptung des Klägers in der Praxis wohl oftmals entsprechend der eingeschliffenen Regel “rechts vor links” erfolgen wird und viele Verkehrsteilnehmer von der Geltung dieser Regel auch auf Parkplätzen ausgehen mögen, rechtfertigt es nicht, bei der Konkretisierung der allgemeinen Rücksichtnahmepflicht nach § 1 Abs. 2 StVO dem von links kommenden Kraftfahrer eine höhere Sorgfaltspflicht aufzuerlegen, die sich im Rahmen der Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG zu seinem Nachteil auswirkt (anders OLG Saarbrücken, NJW 1974, 1099, 1100 [OLG Hamm 05.02.1974 – 5 Ss 1527/73] ; für Tankstellengelände OLG Köln, NZV 1994, 438, 439 [OLG Köln 13.07.1994 – 2 U 36/94] , juris Rn. 8). Allerdings muss auf Parkplätzen damit gerechnet werden, dass sich der von rechts kommende Kraftfahrer – irrig – für vorfahrtberechtigt hält. Dies ist aber kein Grund, den von rechts Kommenden zu privilegieren, der seinerseits beachten muss, dass die gesetzliche Vorfahrtsregel auf Parkplätzen grundsätzlich nicht gilt.
Vorinstanz: LG Lübeck, Urteil vom 16.09.2021, 14 S 136/20 = wurde “bestätigt” (Haftungsquote im dortigen Einzelfall 70 zu 30, wobei “überhöhte” Geschwindigkeiten in die Bewertung eingeflossen waren)
OLG FFM., Urteil vom 22.06.2022, 17 U 21/22
Vorfahrtsregel “rechts vor links” auf Parkplätzen
1. Fahrgassen auf Parkplätzen sind grundsätzlich keine dem fließenden Verkehr dienenden Straßen und gewähren deshalb keine Vorfahrt. Kreuzen sich zwei dem Parkplatzsuchverkehr dienende Fahrgassen eines Parkplatzes bzw. eines Parkhauses, gilt für die herannahenden Fahrzeugführer das Prinzip der gegenseitige Rücksichtnahme (§ 1 StVO), d. h. jeder Fahrzeugführer ist verpflichtet, defensiv zu fahren und die Verständigung mit dem jeweils anderen Fahrzeugführer zu suchen.
2. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die angelegten Fahrspuren eindeutig und unmissverständlich Straßencharakter haben und sich bereits aus ihrer baulichen Anlage ergibt, dass sie nicht der Suche von freien Parkplätzen dienen, sondern der Zu- und Abfahrt der Fahrzeuge. Für den Straßencharakter können eine für den Begegnungsverkehr ausreichende Breite der Fahrgassen und andere leicht fassbare bauliche Merkmale einer Straße wie Bürgersteige, Randstreifen oder Gräben sprechen. Fehlt es an solchen baulichen Merkmalen, muss die Ausgestaltung umso klarer durch die Fahrbahnführung und -markierung sein. Maßgeblich ist jedoch, dass die Funktion des § 8 Abs. 1 StVO, nämlich die Schaffung und Aufrechterhaltung eines (quasi) fließenden Verkehrs, auf der fraglichen Verkehrsfläche deutlich im Vordergrund steht. Eine Fahrgasse zwischen markierten Parkreihen ist daher keine Fahrbahn mit Straßencharakter, wenn die Abwicklung des ein- und ausparkenden Rangierverkehrs zumindestens auch zweckbestimmend ist.
Ebenso
OLG Zweibrücken, Beschluss vom 26.07.2022 – 1 U 172/21
Es ist anerkannt, dass auf allgemein zugänglichen Privatparkplätzen – wie hier auf dem für jedermann zugänglichen Parkplatz des Realmarktes – die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung gelten (, Juris). Auch auf einem allgemein zugänglichen Parkplatzgelände gilt dabei für jeden Fahrzeugführer das aus , Urteil vom 15.12.2015, Az. VI ZR 6/15§ 1 Abs. 2 StVO folgende Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme. Wegen der auf einem Parkplatz ständig zu erwartenden Ein- und Ausparkvorgänge obliegen jedem Kraftfahrer dabei erhöhte Sorgfalts- und Rücksichtspflichten. Angesichts der ständig wechselnden Verkehrssituationen auf einem Parkplatz muss bei stetiger Bremsbereitschaft mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden (; , Urteil vom 15.12.2015, Az. VI ZR 6/15; jeweils Juris). Die besonderen Vorfahrts- und Vorrangregeln der Straßenverkehrsordnung, die in erster Linie dem Schutz des fließenden und deshalb typischerweise schnelleren Verkehrs dienen, gelten auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter allerdings nur mittelbar über , Urteil vom 07.03.2017, Az. 1 U 97/16§ 1 Abs. 2 StVO. Fahrspuren auf Parkplätzen dienen grds. nicht dem fließenden Verkehr, sodass sie im Regelfall keine Vorfahrt gewähren, sondern alle Fahrzeugführer entsprechend § 1 StVO zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet sind und alle Fahrzeugführer hohe Sorgfaltsanforderungen zu berücksichtigen haben (, Juris) , Beschluss vom 12.10.2009, Az. 12 U 233/08
Anderes gilt (nur) dann, wenn die Fahrspuren zwischen den Parkplätzen eindeutigen Straßencharakter haben und sich schon aus der baulichen Anlage ergibt, dass sie nicht dem Suchen von Parkplätzen, sondern der Zu- und Abfahrt der Fahrzeuge dienen (; , Urteil vom 07.03.2018, Az. 1 U 97/06; jeweils Juris). Die Fahrgasse zwischen markierten Parkreihen mit Straßencharakter bildet aber keine Fahrbahn mit Straßencharakter, wenn die Abwicklung des ein- und ausparkenden Rangierverkehrs zumindest auch zweckbestimmend ist ( , Urteil vom 29.06.2010, Az. 1 U 240/09, Juris für die Situation in einem Parkhaus). Handelt es sich bei einem der Wege um eine baulich größer und breiter angelegte Straße, kann , Urteil vom 27.05.2020, Az. 10 U 6767/19§ 10 StVO analog zur Anwendung kommen (; , Beschluss vom 12.10.2009, Az. 12 U 233/08; jeweils Juris). , Urteil vom 28.07.2006, Az. 10 U 28/06
OLG München, Urteil v. 01.12.2021 – 10 U 1833/21
Leitsatz (nach Beck-Verlag / FD-StrVR 2021, 444472):
Kollidiert auf einem Parkplatz ein rückwärts ausparkendes Fahrzeug mit einem Fahrzeug, das in den Bereich hinter dem ausparkenden Fahrzeug einfährt, ohne das Zurücksetzen erkennen zu können, haftet nach einem der rückwärts Ausparkende allein.
Ergebnis: Hier gelangt das OLG München zu einer vollen Haftung (100%) des Rückwärtsfahrenden!
Aus den Gründen:
Da auf Parkplätzen stets mit ausparkenden und rückwärtsfahrenden Fahrzeugen zu rechnen ist, müssen Kraftfahrer hier so vorsichtig fahren, dass sie jederzeit anhalten können. Das gilt in besonderem Maße für den rückwärtsfahrenden Verkehrsteilnehmer. Bei ihm ist die besondere Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens mit einzubeziehen, die wegen des eingeschränkten Sichtfeldes des Rückwärtsfahrenden für den rückwärtigen Verkehr besteht. Entsprechend der Wertung des § 9 V StVO muss er sich deshalb so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann.
Dem gegenüber ist es den Beklagten nicht gelungen, einen Verstoß der Klägerin gegen § 1 Abs. 2 StVO nachzuweisen. Ein derartiger Verstoß käme nur dann in Betracht, wenn die Klägerin zumindest die angeschalteten Rückfahrscheinwerfer oder sogar eine Rückwärtsfahrt zu einem Zeitpunkt hätte erkennen können, als ihr das Abstoppen vor dem Bereich hinter dem Beklagtenfahrzeug noch möglich gewesen wäre.
OLG Saarbrücken vom 09.10.2014 – 4 U 46/14
Kollision auf einem Kundenparkplatz zwischen einem rückwärts aus einer Parkbucht herausfahrenden Fahrzeug und einem die Mittelgasse befahrenden Fahrzeug
1. Kommt es zu einer Kollision zwischen einem rückwärts aus einer Parktasche ausfahrenden Fahrzeug mit einem die Mittelgasse in Schrittgeschwindigkeit fahrenden Fahrzeug, so spricht ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Rückwärtsfahrenden, wenn ihm der Nachweis nicht gelingt, dass er vorkollisionär angehalten hat.
2. Dem steht auch nicht entgegen, wenn sich das in der Fahrgasse befindliche Fahrzeug im Anstoßzeitpunkt in Bewegung befand und die Kollisionsgeschwindigkeit nicht nachweisbar über einer Schrittgeschwindigkeit liegt. Das allein rechtfertigt nicht die Annahme eines Verstoßes gegen die allgemeine Rücksichtnahmepflicht.
Ergebnis: Die nach § 17 StVG gebotene Haftungsabwägung führt zur Alleinhaftung des Ausparkenden.
OLG Saarbrücken, Urteil vom 06.06.2019, 4 U 89/18
Kollidieren zwei jeweils rückwärts ausparkende Pkw auf einem unübersichtlichen Parkplatz, berechtigt allein der Umstand, dass einer der beiden Pkw in einem nicht näher einzugrenzenden Zeitpunkt vor dem Zusammenstoß zum Stehen gekommen war, insoweit nicht zur Annahme eines unabwendbaren Ereignisses und tritt die Betriebsgefahr dieses Pkw im Einzelfall nicht schon wegen des vorkollisionären Stillstands zurück.
Dabei darf sich die Prüfung aber nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein „Idealfahrer” reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein „Idealfahrer” überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre; denn der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, dass sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr (zu spät) „ideal” verhält. Damit verlangt § 17 Abs. 3 StVG, dass der „Idealfahrer” in seiner Fahrweise auch die Erkenntnisse berücksichtigt, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden.
In diesem Fall ist eine Haftungsverteilung von 80/20 zu Lasten des im Kollisionszeitpunkt noch in Rückwärtsfahrbewegung befindlichen Kfz gerechtfertigt (Abgrenzung OLG Saarbrücken, 9. Oktober 2014, 4 U 46/14, NJW-RR 2015, 223).
Quelle → OLG Saarbrücken 4 U 89/18
OLG Hamm, Beschluss vom 28.10.2020 – 7 U 58/20
§ 9 Abs. 5 StVO ist auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter auch dann nicht unmittelbar anwendbar, wenn – wie hier – nicht beide unfallbeteiligten Pkw rückwärtsfahrend miteinander kollidieren (im Anschluss an BGH Urt. v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, r+s 2016, 149 Rn. 11; in Abgrenzung zum Parktaschenunfall OLG Düsseldorf Urt. v. 10.5.2011 – 1 U 149/10, BeckRS 2012, 2371).
In sog. Parkplatzfällen ist jedoch die Wertung des § 9 Abs. 5 StVO im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung des § 1 Abs. 2 StVO zu berücksichtigen (im Anschluss an BGH Urt. v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, r+s 2016, 149 Rn. 11).
Ein Anscheinsbeweis zu Lasten des Rückwärtsfahrenden kommt dabei jedoch regelmäßig – so auch hier – nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt noch in Bewegung war (im Anschluss an BGH, Urt. v. 11.10.2016 – VI ZR 66/16).
OLG München, Urteil vom 27.05.2020 – 10 U 6767/19
(Keine) Geltung von § 8 Abs. 1 StVO (“RECHTS vor LINKS”) bei Parkhausunfall / Parkplatzunfall?
1. Die StVO regelt den Verkehr auf öffentlichen Wegen und Plätzen, wozu ein Verkehrsraum zählt, wenn er entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch so benutzt wird. Bei einem Parkhaus eines Mietwagenunternehmens ist dies der Fall.
2. Eine Fahrgasse im Parkhaus zwischen markierten Parkreihen bildet keine Fahrbahn mit Straßencharakter, wenn die Abwicklung des ein- und ausparkenden Rangierverkehrs zumindest auch zweckbestimmend ist; die Regelung des § 8 StVO gilt daher nicht.
Quelle → VOLLTEXT / OLG München / 27.05.2020 / 10 U 6767/19
OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2022, 9 U 221/21
1. Auf einem Parkplatz, insbesondere bei Ein- und Ausparkmanövern, ist das Gesamtgeschehen zu betrachten.
2. Hierbei besteht ein wechselseitiges Rücksichtnahmegebot, insbesondere ist zwischen den Fahrzeugführern in Zweifelsfällen ein Kommunikationsakt nötig, um für beide Fahrzeuge ein unfallfreies Ein- und Ausparken zu ermöglichen.
Zur Nachvollziehbarkeit des Geschehens – dann wird alles klar (Haftung 50/50) – hier ein Auszug aus den Beschlussgründen:
Der Zeuge A (= Fahrer des Klägerfahrzeugs) hat in der mündlichen Verhandlung sinngemäß erklärt, er habe aufgrund des Rückfahrlichts erkannt, dass das Beklagtenfahrzeug rückwärts fahren will, er habe jedoch nicht damit gerechnet, dass dies unter Inanspruchnahme der danebenliegenden Parkbox erfolge. Dennoch hat er seinen Parkvorgang fortgesetzt, was einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO darstellt. Der Zeuge durfte nicht ausschließen, dass das große Fahrzeug der Beklagten zu 2.) mehr Platz beim Ausparken in Anspruch nimmt, insoweit war ein langsames Heranfahren und Einparken angebracht. Zumindest wäre ein unfallvermeidendes vorsichtiges Heranfahren unter Beachtung des Beklagtenfahrzeugs geboten gewesen.
Aber “Sonderfall” Autobahnrastplatz:
AG Schwarzenbek, Urteil vom 28.04.2022, 43 C 823/20
1. Wer aus der Parkbucht eines Autobahnrastplatzes vorwärts in die Fahrgasse einfährt und dort mit einem anderen, die Gasse durchfahrenden Fahrzeug kollidiert, haftet für den Unfallschaden grundsätzlich allein.
2. Fahrgassen auf Autobahnrastplätzen sind nicht mit Fahrgassen auf reinen Parkplätzen, auf denen grundsätzlich Schrittgeschwindigkeit bei ständiger Bremsbereitschaft einzuhalten ist, zu vergleichen. Insofern ist eine Geschwindigkeit des Durchgangsverkehrs auf einem Autobahnrastplatz von 30 km/h nicht überhöht.
3. An der Alleinhaftung des in die Fahrgasse Einfahrenden ändert auch der Umstand nichts, dass der Unfallgegner die Fahrgasse nicht äußerst rechts, sondern mittig befährt. Auf einem Autobahnrastplatz ist die Fahrbahn nur für eine Richtung vorgesehen und darf grundsätzlich auf der gesamten Breite genutzt werden.
Quelle: Beck-Online / LSK 2022, 47142
Hinweis: Gedanklich besteht ja hier auch die Besonderheit, dass auf einem reinen Autobahnrastplatz im allgemeinen nur in eine Richtung gefahren werden darf.
9. Auffahrunfall vor Ampel nach Umschalten von Grün auf Gelb (und Konstellation: Bremsen in der Anfahrtphase bei Grün)
LG Hamburg, Urteil vom 31.05.2022, 323 S 24/21
Abbremsen vor einer von GRÜN auf GELB umspringenden Ampel ist nicht “plötzlich” und der Auffahrende haftet voll!
Das Abbremsen bei GELBLICHT entspricht im Übrigen der StVO – hier § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 6 – denn dort steht geschrieben:
Gelb ordnet an: „Vor der Kreuzung auf das nächste Zeichen warten“.
OLG Celle, Beschluss vom 07.05.2018, 14 U 60/18
Schaltet eine Kreuzungsampel von grün auf gelb, so muss ein herankommender Kraftfahrer gemäß § 37 Abs. 2 Nr. 1 StVO bis zum Stillstand abbremsen, solange ihm ein Anhalten vor dem Kreuzungsbereich noch möglich ist. Der Kreuzungsbereich in diesem Sinne beginnt nicht an einer etwa vorhandenen Haltelinie, sondern erst dort, wo sich die Fahrspuren der Geradeausfahrenden mit denjenigen der Abbiegenden kreuzen (vgl. ). , Beschl. v. 2.11.1977 – 1 Ss (OWi) 625/77
Der Führer eines Fahrzeug muss damit rechnen, dass das vor ihm fahrende Fahrzeug bei der Annäherung an eine Ampel plötzlich abrupt bremst, weil die Ampel von grün auf gelb umspringt.
Kommt es vor einer Ampel zu einem Auffahrunfall, weil der Vorausfahrende, dem ein Anhalten vor dem Kreuzungsbereich noch möglich ist, beim Umschalten der Ampel von grün auf gelb plötzlich abrupt bremst, so kommt eine Alleinhaftung des Auffahrenden, für dessen unfallursächliches Verschulden der Beweis des ersten Anscheins spricht, in Betracht (vgl. OLG Karlsruhe, FHZivR 33 Nr. 4194).
BGH, Urteil vom 16. Januar 2007, VI ZR 248/05
Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann auch dann erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges “ruckartig” – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist (Senatsurteil vom 9. Dezember 1986 – VI ZR 138/85 – aaO; vgl. Lepa, NZV 1992, 129, 132). Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug – wie hier der PKW von Frau H. – durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (BGHSt 17, 223, 225; Senatsurteile vom 23. April 1968 – VI ZR 17/67 – VersR 1968, 670, 672 und vom 9. Dezember 1986 – VI ZR 138/85 – aaO, m.w.N.).
LG Heidelberg, Urteil vom 11.10.2013, 5 O 106/13
Soweit dessen ungeachtet eine starke, gar abrupte Bremsung feststeht, stellt dies gleichwohl das Verschulden des Beklagten zu 3 nicht in Frage. Denn der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann zwar auch dann erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges “ruckartig” – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist. Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (BGH, NJW-RR 2007, 680 f. – juris Rz. 6).
LG Saarbrücken, Urteil vom 05.06.2020, 13 S 181/19
Erschütterung des Anscheinsbeweises hinsichtlich der Unfallverursachung durch einen Vorfahrtsverstoß
Der Anscheinsbeweis eines Vorfahrtsverstoßes (§ 8 Abs. 2 Satz 2 StVO) ist erst dann erschüttert, wenn eine Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten feststeht, bei der zumindest die Möglichkeit besteht, dass er für den Wartepflichtigen im Zeitpunkt seines Anfahrentschlusses nicht erkennbar war.
Der Nachweis einer solchen Geschwindigkeit obliegt dem Wartepflichtigen, weil er Umstände zu beweisen hat, die dem Unfallgeschehen die für einen Vorfahrtsverstoß sprechende Typizität nehmen.
Konstellation: Bremsen in der Anfahrtphase bei Grün
OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.03.2024, 7 U 82/23
Ampel auf GRÜN – Anfahrender bremst unerwartet – Nachfolger fährt auf: Wer auffährt, hat auch hier Schuld / Abbremsen “unerwartet” vs. “stark”
1. Der Anscheinsbeweis zu Lasten des von hinten Auffahrenden wird nicht dadurch erschüttert, dass der Voranfahrende in der Anfahrtphase bei Grünlicht abgebremst hat.
2. Ein unerwartetes Abbremsen ist nicht mit einem „starkes Abbremsen“ im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO gleichzusetzen. Wer gerade erst angefahren ist, kann schon gar keine Geschwindigkeit aufgenommen haben, in der ein starkes Abbremsen überhaupt möglich ist.
Quelle → zum VOLLTEXT geht es HIER LANG
10. Auffahren auf einen plötzlich abbremsenden / haltenden Verkehrsteilnehmer / und der “disziplinierende” Bremser
OLG Celle, Urteil vom 16.12.2020, 14 U 87/20
Der Auffahrende haftet auch bei unverhofft starkem Bremsen des Vorausfahrenden ohne zwingenden Grund in der Regel überwiegend (hier 70 : 30).
Gegen den Auffahrenden spricht der Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung, sofern nicht besondere Umstände vorliegen, die gegen die Typizität des Geschehens sprechen.
Auch im Falle eines Kettenauffahrunfalls kann nach den Umständen des Einzelfalls ein Anscheinsbeweis gegen den ersten Auffahrenden sprechen.
Der Hintermann muss grundsätzlich, wenn keine atypische Konstellation vorliegt, mit einem plötzlichen scharfen Bremsen des Vorausfahrenden rechnen; der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist in dem Fall nicht erschüttert.
Aus den Gründen (nur die Schlag”worte”):
Betreffend den auffahrenden Hintermann:
Der Hintermann muss grundsätzlich mit einem plötzlichen scharfen Bremsen rechnen (vgl. u.a. MüKoStVR-Bender, § 4 StVO, Rn. 20).
Auf Autobahnen muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Kraftfahrzeug nach StVO § 4 Abs. 1 S 1 in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn das vorausfahrende Fahrzeug plötzlich gebremst wird (BGH, Urteil vom 09. Dezember 1986 – VI ZR 138/85 –, juris).
Betreffend den vorausfahrenden Bremser:
Es (gemeint ist das Landgericht) hat insbesondere zu Recht darauf abgestellt, dass der Beklagte zu 1) im Rahmen seiner persönlichen Anhörung selbst erklärt hat, stärker gebremst zu haben, als es eigentlich erforderlich gewesen wäre, wohl deshalb, weil er das Fahrzeug nicht so gut gekannt habe; der Verkehr vor ihm habe sich nicht gestaut.
Volltext → Auffahrunfall auf urplötzlich Bremsenden
BGH, Urteil vom 09.12.1986 – VI ZR 138/85
Autobahn / Abstand zum Vordermann / plötzliches Abbremsen des Vordermannes
Auf Autobahnen muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Kraftfahrzeug nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn das vorausfahrende Fahrzeug plötzlich gebremst wird. Jedoch ist nicht mit einem “ruckartigen” Stehenbleiben zu rechnen; vielmehr kann der nachfolgende Fahrer, wenn keine besonderen Umstände dem entgegenstehen, den vollen Weg einer Notbremsung des Vorausfahrenden bei Bemessung seines Abstandes einkalkulieren.
OLG Hamm, Beschluss vom 07.01.2021, 7 U 53/20
Vollständiges Zurücktreten der Betriebsgefahr bei gefährlichem Fahrmanöver; Konstellation: Abbiegen aus der linken von zwei Fahrspuren in ein Grundstück
Die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Auffahrenden kann bei einem besonders gefährlichen Fahrmanöver des Vorausfahrenden vollständig hinter dessen Verursachungs- und Verschuldensbeiträgen sowie der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs zurücktreten, so hier beim Abbiegen aus der linken von zwei Fahrspuren in ein Grundstück.
AG Homburg, Urteil vom 10.06.2021 – 5 C 168/20
Die Grundsätze des Anscheinsbeweises kommen auch dann bei einem Auffahrunfall zum Tragen, wenn – was im vorliegenden Falle streitig ist – der Vorausfahrende verkehrswidrig stark abbremst. Der Anscheinsbeweis setzt nämlich kein verkehrsgerechtes (vorausfahrendes) Verhalten voraus. Ein plötzliches starkes Abbremsen des Vorausfahrenden muss ein nachfolgender Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (vgl. mwN. – juris). Hiernach haftet der Auffahrende – auch hier – in vollem Umfang. Urteil vom 4. Oktober 2019 – 13 S 69/19
OLG München, Urteil vom 11.05.2022 – 10 U 2165/21
Haftung bei Auffahrunfall nach heftigem Abbremsen (und unkonstanter Fahrweise)
Im Fall des Auffahrens auf ein Fahrzeug, das unkonstant fährt, mal bremst, mal beschleunigt, und schließlich grundlos stark abbremst, ist eine Haftungsverteilung von 60:40 zu Lasten des Vorderfahrzeugs angemessen.
Leitsatz → Beck-Verlag / beck-online / FD-StrVR 2022, 449303
Quelle → VOLLTEXT unter BAYERN-RECHT
OLG Koblenz, Beschluss vom 16.12.2021, 12 U 1518/21
Kein Anscheinsbeweis für den zur Disziplinierung eines anderen Verkehrsteilnehmers Abbremsenden = volle Haftung des Abbremsenden
1. Ärgert sich eine auf der Vorfahrtsstraße fahrende Pkw-Fahrerin über ein trotz Wartepflicht vor ihr aus einer Nebenstraße einbiegendes Lkw-Gespann und überholt sie daraufhin dieses Lkw-Gespann, um im unmittelbaren Anschluss an diesen Überholvorgang ihr Fahrzeug ohne verkehrsbedingte Notwendigkeit, lediglich zum Zwecke der Disziplinierung des Lkw-Fahrers wegen dessen von ihr missbilligten vorangegangenen Fahrmanövers, stark abzubremsen und den Lkw-Fahrer hierdurch seinerseits zu einer abrupten Bremsung des Lkw-Gespanns zu veranlassen, haftet sie in vollem Umfang, wenn der Lkw-Fahrer trotz dieses Bremsmanövers einen Zusammenstoß mit dem Pkw im Ergebnis nicht mehr verhindern kann.
2. Der grundsätzlich gegen einen Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist bei einer solchen Konstellation entkräftet.
Quelle: Beck-Verlag / FD-StrVR 2022, 447625
Ebenso:
LG Mönchengladbach, Urteil vom 16.04.2002, 5 S 86/01
LG Hamburg, Urteil vom 09.03.2018, 306 O 251/17
OLG Schleswig, Urteil vom 19.3.2024 – 7 U 82/23
Anscheinsbeweis gegen Auffahrenden wird durch Abbremsen direkt nach Anfahren an Ampel nicht erschüttert
1. Der Anscheinsbeweis zu Lasten des von hinten Auffahrenden wird nicht dadurch erschüttert, dass der Voranfahrende in der Anfahrtphase bei Grünlicht abgebremst hat.
2. Ein unerwartetes Abbremsen ist nicht mit einem „starkes Abbremsen“ im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO gleichzusetzen. Wer gerade erst angefahren ist, kann schon gar keine Geschwindigkeit aufgenommen haben, in der ein starkes Abbremsen überhaupt möglich ist.
Quelle → zum VOLLTEXT geht es HIER LANG
11. Wahlrecht des Linksabbiegers zwischen mehreren weiterführenden Fahrstreifen
KG Berlin, Urteil vom 18.11.2019, 22 U 18/19
Haftungsverteilung bei Verkehrsunfall: Wahlrecht des Linksabbiegers zwischen mehreren markierten Fahrstreifen
Der in dem einzigen zulässigen Linksabbiegerfahrstreifen Nachfolgende darf dem Voranfahrenden dessen Recht, zwischen mehreren markierten Fahrstreifen der Straße, in die abgebogen wird, zu wählen, nicht vorzeitig durch starkes Beschleunigen streitig machen, sondern hat abzuwarten, bis sich der Voranfahrende endgültig eingeordnet hat.
Das Wahlrecht des Voranfahrenden endet erst mit seiner endgültigen Einordnung in einen Fahrstreifen, d.h. i.d.R. frühestens 15 bis 20 m nach dem Beginn der Fahrstreifenmarkierungen.
Quelle → KG Berlin zum Linksabbiegen in mehrere Fahrstreifen
AG Brandenburg, Urteil vom 27.05.2022, 31 C 290/20
Ein Rechtsabbieger darf beim Abbiegen in eine zweispurige Straße in die linke Fahrspur einfahren (hat also ein Wahlrecht) – und der entgegenkommende Linksabbieger muss das Vorfahrstecht des Rechtsabbiegers beachten.
12. Kollision mit anfahrendem Müllfahrzeug
LG Rostock, Urteil vom 24.05.2022 – 2 O 1171/21
Müllfahrzeug / Sonderrechte / Anscheinsbeweis / Sicherheitsabstand beim Vorbeifahren / Schrittgeschwindigkeit
Kommt es im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Ein- oder Anfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spricht ein Anscheinsbeweis gegen den Anfahrenden. Dass das Fahrzeug mit Sonderrechten nach § 35 Abs. 6 StVO am Straßenverkehr teilnimmt, steht dem nicht entgegen. Diese Sonderrechte befreien den Fahrer des Müllfahrzeugs nicht von der Einhaltung allgemeiner Verkehrsregeln, namentlich allgemeiner Pflichten beim Anfahren und Einfädeln in den fließenden Verkehr (OLG Karlsruhe, Beschluss v. 26.07.2018, 1 U 117/17, juris, Rz 20; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 23.09.2020, 1 U 6/19, juris, Rz 2, 3).
…
Mit Blick auf die Privilegierung von Müllfahrzeugen im Einsatz darf zwar an diesen nur langsam, d.h. in der Regel mit Schrittgeschwindigkeit oder 2 m Sicherheitsabstand vorbeigefahren werden (OLG Karlsruhe a.a.O., Rz 27). … Erst bei einer Überschreitung des Wertes von 10 km/h kann von einer Überschreitung der gesetzlich nicht näher definierten Schrittgeschwindigkeit ausgegangen werden (OLG Hamm, Beschluss vom 28.11.2019, 1 RBs 220/19, juris, Rz 17).
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26. 7. 2018 – 1 U 117/17
Entsorgungsfahrzeug / Müllauto / Anscheinsbeweis / Betriebsgefahr / Sicherheitsabstand beim Vorbeifahren / Schrittgeschwindigkeit
Der Fahrer eines Müllfahrzeuges haftet beim Anfahren vom rechten Straßenrand gegenüber einem langsam vorbeifahrenden PKW (mindestens) zu 75 %. § 10 Satz 1 StVO findet trotz der Privilegierung des § 35 Abs. 6 StVO Anwendung.
Aus den Gründen:
a) Nach § 35 Abs. 6 StVO dürfen zwar u. a. im Einsatz befindliche Müllfahrzeuge überall fahren und halten, soweit ihr Einsatz dies erforderlich macht.
Die Norm sieht für diese Müllfahrzeuge zwar immerhin, zugleich aber auch nur – gegenüber der umfassenderen Regelung in § 35 Abs. 1 StVO etwa für Polizei- und Rettungskräfte in dringenden Einsätzen (für die im Übrigen selbst dann noch die Rücksichtnahmepflicht nach § 35 Abs. 8 StVO gilt!) – wegen ihrer Einsatztätigkeit im allgemeinen Interesse in § 35 Abs. 6 StVO eine beschränkte Privilegierung vor (vgl. Rogler in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 35 StVO, Rn. 124 ff.): Fahrzeuge, die – u. a. – der Müllabfuhr dienen und zudem durch weiß-rot-weiße Warneinrichtungen gekennzeichnet sind – was hier ausweislich des oberen Lichtbilds auf Seite 2 der Lichtbildzusammenstellung des Sachverständigen der Fall gewesen ist – dürfen auf allen Straßen und Straßenteilen und auf jeder Straßenseite in jeder Richtung zu allen Zeiten fahren und halten, soweit ihr Einsatz dies erfordert, sie sind dadurch freilich nicht von der Einhaltung der übrigen Verkehrsvorschriften entbunden (vgl. Hentschel/König/Dauer-König, aaO, § 35 StVO, Rn. 13 mwN), so beispielsweise nicht von der Sorgfaltspflicht, sich vor einem Fahrstreifenwechsel zu überzeugen, dass andere Verkehrsteilnehmer durch seine Fahrweise nicht überrascht und gefährdet werden; § 35 Abs. 8 StVO gilt (erst Recht) auch hier (vgl. 12 U 5297/94, juris; Rogler in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, Stand: 25. 10. 2017, § 35 StVO, Rn. 113). , Urt. v. 15. 1. 1996 –
Ebenso wenig sind Insassen eines Müllfahrzeugs etwa von den besonderen Sorgfaltspflichten beim Ein- und Aussteigen gemäß § 14 StVO dispensiert (vgl. OLG Brandenburg, VRS 117, 336; König, aaO). Anders als die Berufung meint, gelten speziell auch für das Ein- oder Anfahren für Müllfahrzeuge die gleichen hohen Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO; selbst wenn – bisweilen – dann über das allgemeine Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO hergeleitet (vgl. KG NZV 2004, 637; 1996, 21; OLG Düsseldorf, VM 1978, 60 dazu auch König, aaO, § 10 StVO, Rn. 10).
Nach § 10 Satz 1 StVO hat sich jedoch – schon wegen der objektiven Gefährlichkeit dieses Verkehrsvorgangs; und zwar mit jedem Fahrzeug, erst Recht jedoch mit einem großvolumigen, unübersichtlichen Müll-Lkw – der betreffende Fahrzeugführer beim Anfahren – selbst nach nur kurzem Anhalten – kraft ausdrücklicher gesetzgeberischer Anordnung so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer des bevorrechtigten fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist, mithin die so gen. „äußerste“ bzw. „größtmögliche Sorgfalt“ zu wahren (vgl. Hentschel/König/Dauer-König, aaO, § 10 StVO, Rn. 10 mwN); erforderlichenfalls muss er sich einweisen lassen. Der Fahrer muss sich demgemäß vergewissern, dass die Fahrbahn für ihn im Rahmen der gebotenen Sicherheitsabstände frei ist und dass er niemanden übermäßig behindert. Die Verantwortung für die Sicherheit des Vorgangs trifft vor allem ihn (vgl. BGH VRS 56, 203; OLG Köln, DAR 2006, 27; König, aaO mwN). Das gilt – wie gesehen – auch für Müllfahrzeuge im Einsatz, ggfs. auch über § 1 Abs. 2 StVO (s. o.). Kommt es im unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einem Ein- oder Anfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spricht anerkanntermaßen ein Anscheinsbeweis gegen den Anfahrenden (vgl. BGH, DAR 2011, 696; OLG Celle, NJW-RR 2003, 1536; KG NZV 1996, 365; OLG Köln NZV 2012, 540; König, aaO, Rn. 11 mwN).
Nach diesen Maßstäben ist für den Streitfall das LG im angefochtenen Urteil in Würdigung des Ergebnisses der durchgeführten Beweisaufnahme völlig zutreffend davon ausgegangen, dass der Bekl. zu 2 sorgfaltswidrig gehandelt habe, weil er – unbestritten – vom rechten Straßenrand mit dem Müll-Lkw angefahren ist, ohne auf möglichen von hinten nahenden, bevorrechtigten fließenden Verkehr – hier konkret die tatsächlich schon mit dem von ihr gelenkten Pkw im Vorbeifahren befindliche Kl. – zu achten, weswegen es auch zum streitgegenständlichen Unfall kam. Auf einen entsprechenden Anscheinsbeweis hat das LG insoweit überhaupt nicht rekurriert, sodass die diesbezügliche Berufungsrüge ohnedies ins Leere geht.
…
3. Für die Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge gemäß § 17 Abs. 2, Abs. 1 StVG ist nach alldem im Streitfall von Folgendem auszugehen:
a) Zu Lasten der Bekl. ist eine schon aufgrund seiner Größe, Masse und Unübersichtlichkeit (mithin konstruktionsbedingt) gegenüber dem Pkw der Kl. erhöhte Betriebsgefahr in Ansatz zu bringen, die zudem durch einen ganz gravierenden sorgfaltswidrig-schuldhaften Verstoß des Bekl. zu 2 gegen eine der so gen. „Kardinalpflichten“ der StVO, für welche der Gesetzgeber höchste Vorsicht gebietet, weiter massiv erhöht wurde, sodass in der Regel – sogar – die einfache Betriebsgefahr des Verkehrsteilnehmers des fließenden Verkehrs hinter einem entsprechenden Verstoß zurücktritt (vgl. Hentschel/König/Dauer-König, aaO, § 10 StVO, Rn. 11 a. E. i. V. m. § 17 StVG, Rn. 10 und 18 mwN).
b) Andererseits ist nach Sachlage zu Lasten der Kl. zunächst die einfache Betriebsgefahr ihres Pkw zu berücksichtigen, die jedoch schon bauartbedingt gegenüber der Betriebsgefahr des Bekl.-Lkw ganz erheblich geringer zu bewerten ist. Diese einfache Betriebsgefahr wurde außerdem jedenfalls, zugleich aber auch nur, geringfügig verhaltensbedingt durch einen (leichten) Verstoß der Kl. gegen ihre allgemeine Sorgfaltspflicht aus § 1 Abs. 2 StVO (i. V. m. § 35 Abs. 6 StVO) erhöht.
Denn mit Blick auf die Privilegierung von Müllfahrzeugen im Einsatz ist diesen gegenüber besondere Vorsicht geboten, an ihnen darf nur langsam, d. h. in der Regel mit Schrittgeschwindigkeit oder 2 m Sicherheitsabstand vorbeigefahren werden (s. o. sowie –, , Urt. v. 11. 11. 1987 – 3 U 328/86NJW-RR 1988, 866; –, , Urt. v. 26. 4. 2002 – 16 O 83/02ZfS 2002, 422; – 390/81 I –, , Beschl. v. 1. 9. 1982 – 5 Ss OWi 467/81VRS 64, 458; Hentschel/König/Dauer-König, StVR, aaO, § 35 StVO, Rn. 13). Schließlich ist bekannt, dass bei Einsatz der privilegierten Fahrzeuge tätige Personen die im Straßenverkehr gebotene Sorgfalt nicht stets in jeder Hinsicht beachten (können), weil ihr Hauptaugenmerk auf ihrer Arbeitsverrichtung liegt (vgl. – , Urt. v. 17. 4. 2014 – 13 S 24/14NZV 2014, 412). Es muss demnach – u. a. – etwa mit plötzlich vor oder hinter dem Fahrzeug hervortretenden Personen gerechnet werden (vgl. – Schaden-Praxis 2002, 263; Rogler in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 35 StVO, Rn. 131 sowie Geigel-Freymann, aaO, 27. Kap. Rn. 713 mwN). , Urt. v. 10. 4. 2002 – 24 O 99/01
Quelle: r+s 2018, 671
OLG Braunschweig, Urteil vom 25.11.2002, 7 U 52/02
Mithaftungsquote bei Vorbeifahrt (“vorbeigequetscht”) an einem Müllfahrzeug trotz des unmittelbar bevorstehenden Endes des Entsorgungsvorganges
Hier 50 % zu 50 %, weil:
Da auf der einen Seite der dem Müllwagenfahrer der Beklagten vorzuwerfende Sorgfaltsverstoß erheblich geringer ist, als vom Landgericht angenommen, auf der anderen Seite der Kläger sich in besonders unnötiger Weise in eine erkennbar gefährliche Situation begeben hat, indem er mit seinem Fahrzeug – egal, wie langsam auch immer – sich rechts an dem Müllfahrzeug trotz des unmittelbar bevorstehenden Ende des Entsorgungsvorganges “vorbeigequetscht” hat, ist der Mitverursachungs- und Mitverschuldensanteil insgesamt mit 50 % zu bewerten.
Quelle → OLG Braunschweig Müllfahrzeug vs. vorbeigequetschtem Pkw
13. Haftungsverteilung bei Kollision während des Überholens einer Fahrzeugkolonne
OLG Celle, Urteil vom 08.06.2022, 14 U 118/21
Unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei einer größeren Kolonne von Fahrzeugen
1. Wer ordnungsgemäß zum Überholen einer Kolonne angesetzt hat, hat gegenüber ausscherenden Fahrzeugen aus der Kolonne Vorrang, auch wenn im weiteren Verlauf die Absicht, links abzubiegen, erkennbar wird.
2. Das Überholen einer großen Kolonne von 9-10 Fahrzeugen, ohne dass eine unklare Verkehrslage vorliegt, ist grundsätzlich erlaubt und führt nicht zu einem Mitverschulden. Ggf. kommt jedoch eine erhöhte Betriebsgefahr zum Ansatz.
3. Verletzt der aus einer Kolonne Abbiegende seine Pflichten aus § 9 Abs. 1 StVO und kommt es deshalb zu einem Zusammenstoß mit einem die Kolonne ordnungsgemäß Überholenden, trifft den Abbiegenden die überwiegende Haftung (vorliegend 75 Prozent).
Quelle → VOLLTEXT / OLG CELLE / 08.06.2022 / 14 U 118/21
ähnlich
LG Hamburg, Urteil vom 01.03.2022, 323 S 25/21
Kolonnenüberholer vs. Abbiegender (hier: Mithaftung des Kolonnenüberholers von 30 %)
Dass sich eine mit langsamer Geschwindigkeit fahrende Kolonne gebildet hat, begründet für sich genommen ebenso wenig eine unklare Verkehrssituation wie die Möglichkeit, dass ein in der Kolonne befindliches Fahrzeug zum Abbiegen auf ein Grundstück ausscheren könnte. Ohne weitere Anhaltspunkte muss der nachfolgende Verkehr nicht mit einer Auswirkung auf den Überholvorgang rechnen, da auf die Einhaltung der äußersten Sorgfaltspflicht vor Einleitung eines möglichen Abbiegevorgangs vertraut werden darf.
Andererseits ist aber auch eine Mithaftung des Klägers in Höhe der Betriebsgefahr seines Fahrzeuges vorliegend sachgerecht, da diese vorliegend nicht vollständig hinter dem Verschulden des Beklagten zu 1. zurücktritt.
Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger sich für einen zwar nicht grundsätzlich unzulässigen Fahrvorgang entschieden hat, das Überholen einer Kolonne aus mehreren Fahrzeugen aber doch mit einem gesteigerten Risiko verbunden ist. Bereits bei einem Überholen von zwei Fahrzeugen ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Fahrvorgänge anderer Verkehrsteilnehmer infolge einer Sichteinschränkung durch das weitere in der Kolonne befindliche Fahrzeug später wahrgenommen und Reaktionsmöglichkeiten dementsprechend erschwert werden. Diese objektive Gefahrerhöhung rechtfertigt regelmäßig eine Mithaftung des Überholenden in Höhe der Betriebsgefahr (vgl. OLG München a. a. O.).
Quelle → VOLLTEXT / LG HAMBURG / 01.03.2022 / 323 S 25/21
LG Lübeck, Urteil vom 28.07.2023, 9 O 27/21
1. Bei einem Überholvorgang treffen den Verkehrsteilnehmer gesteigerte Sorgfaltspflichten. Aufgrund dieser gesteigerten Sorgfaltspflichten spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden, wenn sich ein Unfall im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem beabsichtigten Überholvorgang, wie z.B. bei der Ausweichbewegung eines bereits überholenden Fahrzeuges, ereignet.
2. Das Überholen einer Kolonne an sich ist nicht verboten und stellt für sich genommen auch keine unklare Verkehrslage dar. Die Orientierung eines zu überholenden Fahrzeuges hin zur Mittellinie und ohne über diese hinaus zu fahren, reicht für sich genommen nicht zur Annahme einer unklaren Verkehrslage aus.
3. Auch wenn das Überholen einer Kolonne nicht unzulässig ist, hätte zumindest ein Idealfahrer dies angesichts der damit verbundenen abstrakten Selbst- und Fremdgefährdung unterlassen, so dass ein Mitverschuldensanteil von 20 % zu berücksichtigen ist.
OLG München, Urteil v. 24.02.2017 – 10 U 4448/16
Besonderheit: Überholer als Kolonnenspringer (und damit 20 % Mithaftung)
Das Überholen einer Kolonne als solches stellt noch keinen Fall des Überholens bei unklarer Verkehrslage iSd § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO dar. Anderes kann gelten, wenn besondere Umstände hinzukommen, wie etwa, wenn die zu überholenden Fahrzeuge langsamer werden und nach links blinken (vgl. OLG München BeckRS 2010, 08691) oder die Kolonne nur mit ca. 25 km/h fährt und ein Überholen zuvor durch eine durchgezogene gerade Linie auf der Fahrbahnmitte untersagt war (vgl.
OLG Karlsruhe BeckRS 2001, 30196608).
Das Überholen einer Kolonne kann angesichts der mit dem Kolonnenspringen verbundenen abstrakten Selbst- und Fremdgefährdung der Annahme entgegenstehen, der Überholende habe sich dem Idealfahrer entsprechend verhalten.
§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO schützt die zu überholenden Fahrzeuge, den Querverkehr und den nachfolgenden Verkehr, nicht aber den Gegenverkehr; letzterer wird durch § 5 Abs. 2 StVO geschützt.
Verstößt ein Kraftfahrer dadurch gegen § 5 Abs. 4 S. 1 StVO, dass er sich entweder nicht hinreichend vergewissert, dass er zum Überholen ausscheren kann, ohne den nachfolgenden Verkehr zu gefährden, oder unter grober Verkennung der Umstände nach links ausschert, um noch
vor dem von hinten kommenden Fahrzeug zu überholen, und kommt es dadurch zu einer Kollision mit einem die Kolonne bereits überholenden Fahrzeug, kann eine Haftungsteilung von 80:20 zu Lasten des ausscherenden Fahrzeugführers angezeigt sein.
Aus den Gründen (zum Verständnis der Mithaftung des Überholers):
Die mit 20% zu bewertende allgemeine Betriebsgefahr des klägerischen Pkws tritt nicht zurück. Denn zum einen war der Unfall für den Kläger bereits deswegen nicht unvermeidbar, weil das Überholen der
Kolonne zwar nicht unzulässig war, ein Idealfahrer dies jedoch angesichts der mit derartigem Kolonnenspringen verbundenen abstrakten Selbst- und Fremdgefährdung unterlassen hätte. Zum anderen ist das Verschulden der Beklagten zu 1) auch nicht dermaßen überwiegend, dass unter diesem Gesichtspunkt nur eine Haftung im Verhältnis von 100 : 0 angemessen wäre. Dabei kann abermals dahin gestellt bleiben, ob die Beklagte zu 1) schlicht unaufmerksam war oder ob sie aufmerksam war, aber die Umstände grob verkannte. Denn beide Alternativen sind als gleichgewichtig zu bewerten. In jedem Fall stand diesem Fehlverhalten der Beklagten zu 1) das Kolonnenspringen durch den Kläger gegenüber, welches zwar nicht zu einer Erhöhung des Betriebsgefahr des klägerischen Pkws führt, diese aber eben auch nicht zurücktreten lässt.
Quelle: Beck-Verlag / BeckRS 2017, 102781
OLG Rostock, Urteil vom 23.02.2007, 8 U 39/06
Kolonnenüberholer versus Ausscherer
Das Überholen einer Kolonne durch einen Kleintransporter auf einer Bundesstraße unmittelbar hinter einer Ortschaft stellt noch kein Überholen bei unklarer Verkehrslage dar.
Setzt ein Kleintransporter zum Überholen von drei vor ihm fahrenden Fahrzeugen an und schert das mittlere plötzlich aus, so haftet er mit 30 % der entstandenen Schäden.
OLG Koblenz, Urteil vom 10.02.2020, 12 U 1134/19
Motorradfahrer als Kolonnenüberholer vor einer Baustellenampel versus Ausscherer haftet (hier) nicht mit
Bildet sich auf einer Landstraße vor einer ampelgeregelten Baustelle ein kolonnenartiger Rückstau
und überholt – in einer Phase, in welcher kein Gegenverkehr naht – ein Motorrad mit mäßiger Geschwindigkeit (ca. 15 km/h) diese Kolonne,
trifft den Motorradfahrer auch unter Berücksichtigung der von seinem Motorrad ausgehenden Betriebsgefahr keine Mithaftung,
wenn aus der Kolonne ohne jegliche Vorankündigung ein Pkw nach links ausschert, um in einen dort befindlichen Wirtschaftsweg einzubiegen,
und es hierdurch zu einer Kollision mit dem bereits auf (nahezu) gleicher Höhe befindlichen Motorrad kommt.
AG Fürth/Odenwald, Urteil vom 12.02.2021, 1 C 389/19 (11)
Kollision zwischen Linksabbieger und Motorradfahrer als Überholer einer Kolonne
Ist eine Kolonne aus mehreren Fahrzeugen mit verminderter Geschwindigkeit unterwegs, darf ein von hinten herannahender Motorradfahrer nicht in einem Zug an dieser vorbeifahren. Kollidiert er mit einem gegen § 9 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 StVO verstoßenden Linksabbieger, trifft ihn eine Mithaftung.
Ergebnis (hier): Linksabbieger haftet mit 60 % / Mitverschulden des Kolonnenüberholers 40 %
Quelle: SVR 2022, 150
LG Ellwangen, Urteil vom 20.3.2024 – 1 S 70/23
Zur Alleinhaftung eines Kolonnenspringers wegen grob fahrlässigen Verstoßes gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO (Überholen bei unklarer Verkehrslage
Zwar stellt das bloße Überholen einer Kolonne – hier in Form von drei vorausfahrenden PKW – als solches noch keinen Fall des Überholens bei unklarer Verkehrslage i. S. d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO dar (vgl. OLG München, a.a.O.; OLG Karlsruhe Urteil vom 08.06.2001 – 10 U 77/01, BeckRS 2004, 9618). Der vorliegende Fall weist jedoch die erforderliche Besonderheit auf, dass an der konkreten Unfallörtlichkeit bei objektiver Sichtweise nicht mit einem gefahrlosen Überholen zu rechnen war. Bei der vom Sachverständigen anhand des Ereignisdatenspeichers des Klägerfahrzeugs lokalisierten Unfallörtlichkeit handelt es sich um eine lediglich knapp 5 Meter breite Kreisstraße ohne Bankett, die zu Beginn des klägerischen Überholvorgangs abschüssig nach rechts und gegen Ende des klägerischen Überholvorgangs in einer leichten Linkskurve bergauf in Richtung einer Kuppe verläuft (vgl. Lichtbilder 28 – 32 zum Sachverständigengutachten). Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Klägerfahrzeug mit Spiegeln knapp 2,1 Meter breit ist, hätte auch dem Kläger zwingend einleuchten müssen, dass ein Überholen – hier in Form eines Vorbeischießens an gleich drei PKW mit knapp 95 km/h – trotz seiner extremen Beschleunigungsfähigkeit allenfalls möglich sein würde, wenn – entsprechend den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen – alle überholten Fahrzeugführer am äußersten rechten Rand der Fahrbahn fahren und mit der nötigen Aufmerksamkeit ihre Fahrlinie exakt einhalten würden. Hierauf durfte der Kläger aufgrund des ersichtlich kurvigen Verlaufs der nur 5 Meter breiten Kreisstraße, insbesondere des erkennbaren Übergangs von einer bergab verlaufenden Rechtskurve in eine bergauf verlaufende Linkskurve ohne weiteres ersichtlich nicht vertrauen.
Ausführungen zum mutmaßlich fehlenden Seitenabstand, zur mutmaßlich fehlenden Sicht nach vorne sowie zur mutmaßlich fehlenden Einschermöglichkeit im Falle von Gegenverkehr erübrigen sich aus genannten Gründen.
LG Wuppertal, Urteil vom 21.1.2024 – 14 O 4/24
Wer eine aus fünf Fahrzeugen bestehende, wartende Kolonne unter Nutzung der Gegenfahrbahn überholt, stellt seine Bewertung der Verkehrslage erkennbar über die Bewertung von fünf anderen Fahrzeugführern, die dem Anhaltegrund örtlich näher sind und sich in derselben Situation offensichtlich bewusst anders verhalten.
14. Unfall zwischen Überholer und “zu schnellem” Gegenverkehr
OLG Hamm, Hinweisbeschluss vom 5.8.2024 – 7 U 57/24
Haftung für Kollision mit dem Gegenverkehr beim Überholen
Zur Feststellung des verkehrswidrig einen Lkw auf der Straße überholenden Pkw beim Zusammenstoß mit einem Pkw in Gegenrichtung
Ein späterer Unfall kann einer Geschwindigkeitsüberschreitung nicht allein schon deshalb zugerechnet werden, weil das Fahrzeug bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit erst später an die Unfallstelle gelangt wäre, vielmehr muss sich in dem Unfall gerade die auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende erhöhte Gefahrenlage aktualisieren (im Anschluss an BGH, Urteil vom 26.04.2005 – VI ZR 228/03, r+s 2005, 477 = juris Rn. 22 m. w. N.; OLG Hamm, Urteil vom 06.09.2019 – 7 U 18/17, BeckRS 2019, 51958 = juris Rn. 42).
Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (im Anschluss an (BGH, Urteil vom 25.03.2003 – VI ZR 161/02, r+s 2003, 256 = juris Rn. 12 m. w. N.; BGH, Urteil vom 22.11.2016 – VI ZR 533/15, r+s 2017, 95 Rn. 17 m. w. N.; OLG Hamm, Urteil vom 09.05.2023 – 7 U 17/23, r+s 2023, 1020 = juris Rn. 26).
15. Unfall zwischen KFZ und Passant / Fußgänger
OLG Zweibrücken, Beschluss vom 26.04.2021, Az. 1 U 141/19
Kollision eines Kraftfahrzeuges mit einem am Fahrbahnrand stehenden Kind
Erfasst ein Autofahrer ein zu nah an der Bordsteinkante wartendes elfjähriges Kind, führt dies zu einer ganz überwiegenden Haftung des Autofahrers.
Ein Kraftfahrzeugführer ist danach grundsätzlich nicht berechtigt, innerorts die Fahrbahn bis an den rechten Bordstein heran zu befahren, wenn hieraus Risiken für Passanten entstehen. Erst Recht muss das gegenüber am Fahrbahnrand an einer Fußgängerampel stehenden Kindern gelten. Zwar ist dem Kläger vorzuwerfen, dass er sich an den äußersten Rand der Bordsteinkante gestellt hat, sodass er von dem vorbeifahrenden Fahrzeug erfasst werden konnte. Auch einem elfjährigen Schüler muss bewusst sein, dass diese Position an einer stark befahrenen Straße gefährlich ist und erhebliche Schäden auslösen kann. Dieses Mitverschulden rechtfertigt auch nach Auffassung des Senats aber keine Mithaftung des Klägers in Höhe von mehr als 20 %.
Quelle → Pressemitteilung zu OLG Zweibrücken / 1 U 141/19
16. Unfall Autobahn / Überholer vs. Ausscherender (Spurwechsel) / Richtgeschwindigkeit / Betriebsgefahr
OLG SH, Urteil vom 15.11.2022, 7 U 41/21
Erhöhung der Betriebsgefahr aufgrund der erheblichen Überschreitung der Richtgeschwindigkeit auf einer Autobahn
Eine deutlich über der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 km/h liegende Ausgangsgeschwindigkeit ist bei der Haftungsabwägung als betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Bei einer Überschreitung um 30 km/h tritt die Betriebsgefahr im Regelfall nicht mehr zurück.
Eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um ca. 70 km/h kann eine Mithaftung von 25% rechtfertigen.
Quelle → http://VOLLTEXT / Direktlink
OLG München, Urteil vom 23.03.2022 – 10 U 7411/21e
Anscheinsbeweis gegen den Spurwechsler und (hier) Alleinhaftung des Spurwechslers
Ausgangspunkt ist, dass, wenn sich eine Kollision zweier Kfz wie hier vorliegend in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Kraftfahrers ereignet, der Anscheinsbeweis für ein Wechselverschulden spricht (KG VRS 106 [2004] 23 = KGR 2004, 106; OLG Düsseldorf VA 0203, 99 – Autobahn; OLG Düsseldorf 13.1.03, 1 U 99/02 – innerorts).
Weiter ist zu beachten, dass es dem Kläger als spurwechselnden Vordermann, der ein Auffahrverschulden des Beklagtenfahrers geltend macht, der Beweis, dass er so lange im gleich gerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren ist, dass der Hintermann zum Aufbau des nötigen Sicherheitsabstandes in der Lage war, nicht gelungen ist.
Demgemäß kommt es bei dem streitgegenständlichen Auffahrunfall mit dem klägerischen Spurwechsler wegen der hohen Anforderungen des § 7 V StVO kraft Anscheinsbeweises grundsätzlich zu einer Vollhaftung des Klägers als Spurwechslers, die Betriebsgefahr des auffahrenden Beklagtenfahrzeugs tritt vollständig zurück (Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 10. Aufl. 2007, Vorbem. vor Rz. 155 mit zahlr. Beispielen aus der Rechtsprechung; Senat, Urt. v. 08.04.2005 – 10 U 5279/04 = DAR 2005, 684; v. 20.10.2006 – 10 U 3666/06). Hierbei fehlt der gegen den Auffahrenden sprechende und den Anscheinsbeweis begründende typische Geschehensablauf (BGHZ 192, 84 = NJW 2012, 608 = NZV 2011, 177 f.; OLG Naumburg NJW-RR 2003, 809 = VRS 104 [2003] 417; OLG Düsseldorf 08.03.2004 – 1 U 97/03; OLG Hamm NJW-RR 2004, 173; Senat, Urt. v. 04.09.2009 – 10 U 3291/09; KG NZV 2011, 185 f.).
Auch eine Mithaftung der Beklagtenseite aufgrund eines sonstigen Fehlverhaltens (z.B. zu schnelles Fahren, Nichtreagieren auf ein erkennbares Ansetzen zum Spurwechsel, sonstige falsche Reaktion) ist nicht gegeben, da derartiges aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme zu Lasten der Beklagten nicht festgestellt werden konnte.
Quelle → VOLLTEXT / OLG München / 23.03.2022 – 10 U 7411/21e
OLG Rostock, Beschluss vom 10.07.2015 – 5 U 67/14
Haftungsverteilung bei Kfz-Unfall: Kollision bei Überholvorgang auf der Autobahn
Ein Anscheinsbeweis zu Lasten des Auffahrenden kann nur dann greifen, wenn die verunfallten Fahrzeuge über eine gewisse Zeit gleichgerichtet in der gleichen Fahrspur hintereinander gefahren sind, da anderenfalls eine Vielzahl anderer Geschehensabläufe denkbar ist, die nicht auf ein Verschulden des Auffahrenden schließen lassen.
Ein Fahrzeugführer, der auf einer mehrspurigen Autobahn ein vor ihm fahrendes Kfz überholen möchte, hat seinen Überholvorgang nebst Spurwechsel zurückzustellen, wenn er erkennen kann, dass im nachfolgenden Verkehr auf der Überholspur ein anderes Fahrzeug herannaht.
Kommt es im Zusammenhang mit dem Spurwechsel zu einer Kollision, bei der der auf der Überholspur fahrende Verkehrsteilnehmer auf den Spurwechsler auffährt, so trifft Letzteren die alleinige Haftung. Dem Auffahrenden ist kein schuldhafter Pflichtenverstoß anzulasten. Ein Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß des Auffahrenden greift nur dann, wenn die verunfallten Fahrzeuge über eine gewisse Zeit gleichgerichtet in derselben Fahrspur hintereinander gefahren sind.
Die Betriebsgefahr des auffahrenden Fahrzeugs tritt gänzlich zurück, da sich der Unfall bei einer Geschwindigkeit unterhalb der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen ereignet hat.
Hinweis der Dokumentationsstelle des Bundesgerichtshofs: Das Gericht teilt mit, dass die Berufung nach dem Hinweisbeschluss zurückgenommen worden ist.
Quelle → VOLLTEXT / OLG ROSTOCK / 5 U 67/14
OLG SH, Beschluss vom 07.10.2022, 7 U 51/22
Entkräftung des Anscheinsbeweises bei einem Auffahrunfall nach einem Spurwechsel – 5 Sekunden …
Der gegen den Auffahrenden grundsätzlich sprechende Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn der Vorausfahrende im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall vorher den Fahrstreifen gewechselt hat. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Spurwechsel und dem Auffahren ist selbst dann noch nicht unterbrochen, wenn sich vorausfahrende Fahrstreifenwechsler zum Zeitpunkt der Kollision etwa fünf Sekunden auf dem Fahrstreifen des Auffahrenden befunden hat.
Der Anscheinsbeweis zu Lasten eines von hinten auf ein in die Vorfahrtstraße einbiegendes Fahrzeugs setzt voraus, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sie sich auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können.
Wenn sich der Unfallhergang nach Beweisaufnahme als unaufklärbar darstellt, wirkt zu Lasten beider Unfallbeteiligten nur die Betriebsgefahr ihrer Fahrzeuge, was zu einer Quote von 50% zu 50% führt.
OLG Brandenburg, Urteil vom 15.12.2022, 12 U 77/22
Unfall dreier Fahrzeuge auf einer BAB im Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel
Wer den Fahrstreifen wechselt, hat dafür Sorge zu tragen, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO. Kommt es in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel zur Kollision zweier Fahrzeuge, haftet daher grundsätzlich der Spurwechsler kraft Anscheins allein.
Eine Beteiligung weiterer Fahrzeuge führt weder dazu, dass der Anscheinsbeweis erschüttert ist, noch dass er gar ganz entfällt. Denn dass der nachfolgende Verkehr auf der Fahrspur, in die gewechselt werden soll, ein Ausweichmanöver durchführt oder abgedrängt wird, woraufhin es zu einer zweiten Kollision kommt, ist geradezu typisch für einen Spurwechselvorgang.
Quelle (Leitsätze): SVR 2023, 349
VOLLTEXT → DIREKTLINK Justiz Brandenburg
Beachte aber auch eine eventuelle Mithaftung des Auffahrenden bei Überschreitung der Richtgeschwindigkeit, so z.B.
OLG Rostock, Urteil vom 18.11.2011, 5 U 169/10
Haftungsverteilung bei Kfz-Unfall: Fahrspurwechsel und Verstoß gegen Autobahn-Richtgeschwindigkeits-VO
Steht nach der Beweisaufnahme lediglich fest, dass sich der Auffahrunfall in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel ereignet hat und der auffahrende Pkw eine Ausgangsgeschwindigkeit von ca. 160 km/h hatte, so haftet der Auffahrende mit einer Quote von 60%, wenn nicht bewiesen ist, dass der Unfall auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h unvermeidbar gewesen wäre.
Quelle → VOLLTEXT / OLG Rostock / 5 U 169/10
und
OLG Schleswig, Urteil vom 15.11.2022 – 7 U 41/22
Eine deutlich über der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 km/h liegende Ausgangsgeschwindigkeit ist bei der Haftungsabwägung als betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen.
Bei einer Überschreitung um 30 km/h tritt die Betriebsgefahr im Regelfall nicht mehr zurück.
Eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um ca. 70 km/h (hier eben 200 km/h statt 130 km/h) kann eine Mithaftung von 25% rechtfertigen.
Quelle → VOLLTEXT unter DIREKT-LINK zur JUSTIZ SH
OLG München, Urteil vom 01.06.2022, 10 U 7382/21 e
Deutliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit (200 km/h statt 130 km/h) führt zur Mithaftung von 25 %
(a) Grundsätzlich ist bei deutlicher Überschreitung der Richtgeschwindigkeit die Betriebsgefahr zu Lasten des schuldlos an einem Verkehrsunfall Beteiligten zu berücksichtigen (BGH VersR 1992, 714; OLG Hamm NZV 2000, 43 u. 373; Senat, Urt. v. 27.03.1998 – Az. 10 U 4504/97; Senat, Urteil vom 02. Februar 2007 – 10 U 4976/06 -,juris).
(b) Dies schließt zwar andererseits nicht aus, dass die Betriebsgefahr im Einzelfall hinter einem groben Verschulden des Unfallverursachers zurücktritt. Bei einer aber – wie im vorliegenden Fall – eklatanten Überschreitung der Richtgeschwindigkeit des Klägerfahrzeugs um ca. 70 km/h ist dieses jedoch betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Das OLG Düsseldorf hat insoweit in einer Entscheidung vom 21. November 2017 – I-1 U 44/17 zutreffend ausgeführt:
„Denn wer schneller als 130 km/h fährt, vergrößert in haftungsrelevanter Weise die Gefahr, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellt und insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzt (BGH, Urteil vom 17.03.1992 – VI ZR 61/91, juris). Die Erfahrung zeigt, dass immer wieder Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit eines sich schnell nähernden Fahrzeugs, zumal wenn es von hinten herankommt, nicht richtig einzuschätzen und sich hierauf bei einem Wechsel der Fahrstreifen nicht einzustellen vermögen (BGH a.a.O.). Denn auch wenn die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h nach der Autobahn-Richtigkeitsgeschwindigkeits-Verordnung keinen Schuldvorwurf begründet, bedeutet das Fehlen unmittelbarer Sanktionen nicht die rechtliche Irrelevanz auch für das Haftungsrecht. Neben dem Umstand, dass regelmäßig ein oberhalb der Richtgeschwindigkeit fahrender Kraftfahrer den Unabwendbarkeitsnachweis für den Unfall gemäß § 7 Abs. 2 StVG (a.F.) nicht führen kann, wirkt sich eine hohe Ausgangsgeschwindigkeit auch dahingehend aus, dass sie bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge nicht außer Ansatz bleiben kann (vgl. BGH a.a.O.)“.
Der Senat erachtet daher infolge der Tatsache, dass der Kläger die geltende Richtgeschwindigkeit ganz erheblich überschritten hat und der Unfall für ihn bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit auch vermeidbar gewesen wäre, eine Haftungsverteilung von 75:25 zu Lasten der Beklagten für sachgerecht.
Quelle → VOLLTEXT / OLG MÜNCHEN / 01.06.2022 / 10 U 7382/21 e
AG Stade, Urteil vom 20.10.2022, 4 O 89/21
Kommt es auf einer BAB zu einer Kollision zwischen einem Spurwechsler und einem auf dem Überholstreifen mit 180 km/h fahrenden KFZ, haftet der “Überholer” in Höhe der einfachen Betriebsgefahr von 20 %,
wenn nicht nachgewiesen kann, dass es auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit zum Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.
Quelle: SVR 2023, 104
17. Auffahrunfall auf einen “Liegenbleiber” auf der Autobahn
OLG Saarbrücken, Urteil vom 10.12.2020, 4 U 9/20
Haftungsverteilung bei einem Auffahrunfall auf der Autobahn nach Liegenbleiben eines Pkws auf der Mittelfahrspur
1. Ein Halten im Sinne von § 18 Abs. 8 StVO liegt nicht vor, wenn ein Kraftfahrzeug auf Grund einer Betriebsstörung auf einer Bundesautobahn liegen bleibt.
2. Der Umstand, dass ein voranfahrendes Kraftfahrzeug einem liegengebliebenen Personenkraftwagen noch kollisionsvermeidend ausweichen konnte, berechtigt nicht zu dem Schluss, dass der Fahrer des nachfolgenden, mit dem Personenkraftwagen kollidierenden Kraftfahrzeugs entweder unaufmerksam gewesen oder zu schnell gefahren sei oder einen zu geringen Abstand gehabt habe.
3. Die durch das Liegenbleiben auf der mittleren Fahrspur einer Bundesautobahn gesteigerte Betriebsgefahr eines Personenkraftwagens und die einfache Betriebsgefahr des auf dieses Fahrzeug auffahrenden Personenkraftwagens können im Verhältnis 75 : 25 gewichtet werden.
Quelle → VOLLTEXT / OLG Saarbrücken / 4 U 9/20
18. Die Einfädelungsspur und das Vorfahrtrecht der Fahrspur – oft scheinbar ein “Missverständnis”
OLG Celle, Urteil vom 23.06.2021, 14 U 186/20
Anwendbarkeit des § 18 Abs. 3 StVO bei Stau auf der bevorrechtigten Fahrspur
Die Norm des § 18 Abs. 3 StVO bezieht sich auf bauliche Gegebenheiten und setzt eine Einfädelspur und eine Fahrspur voraus. Ist dies der Fall, ist der Verkehr auf der Fahrspur gegenüber dem Verkehr auf der Einfädelspur bevorrechtigt. Dieses Vorrecht bleibt auch dann erhalten, wenn die Fahrzeuge auf der Fahrspur verkehrsbedingt zum Stehen kommen.
Der Wortlaut des § 18 Abs. 3 StVO „Vorfahrt“ leitet sich nicht aus einer Bewegung („fahren“) ab, sondern aus einem „Vorrecht“, das der Gesetzgeber für die sich auf der Fahrspur befindlichen Fahrzeuge gegenüber dem Verkehr auf der Einfädelungsspur normiert hat (gegen OLG Hamm – Bußgeldsenat –, Urteil vom 03.05.2018 – III 4 RBs 117/18 –).
Wortlaut des § 18 Abs. 3 StVO: Der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hat die Vorfahrt.
19. Linksabbieger vs. Überholer
OLG Schleswig, Urteil vom 06.02.2024 – 7 U 94/23
Verkehrsunfall im Zusammenhang mit unzulässigem Überholen und Rechtsabbiegen in ein Grundstück: Zur Haftungsverteilung bei Überholen trotz unklarer Verkehrslage, wenn der vorausfahrende Rechtsabbieger vor dem Abbiegen nach links ausholt
Eine unklare Verkehrslage i. S. d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO und damit ein unzulässiges Überholen kommt in Betracht, wenn das vorausfahrende Fahrzeug bei einem ordnungsgemäß angekündigten Rechtsabbiegen in ein Grundstück zunächst erkennbar – unter Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 2 StVO – nach links ausholt. In diesem Fall hat der Überholende mit einem weiteren Ausscheren des Vorausfahrenden nach links vor dem eigentlichen Abbiegen zu rechnen.
Im Falle einer seitlichen Kollision zwischen einem unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei unklarer Verkehrslage Überholenden und einem nach rechts in ein Grundstück abbiegenden Vorausfahrenden, der sich entgegen § 9 Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 StVO zunächst nach links zur Fahrbahnmitte hin einordnet und unmittelbar vor dem Rechtsabbiegen nach links ausholt, kommt eine Haftungsverteilung von 60% zu 40% zulasten des Überholenden in Betracht.
Quelle → zum VOLLTEXT geht es HIER LANG
OLG Schleswig, Beschluss vom 26.07.2023 – 7 U 42/23
Es besteht für den Überholenden eine unklare Verkehrslage, wenn ein vorausfahrender Traktor nach links blinkt. Der nachfolgende Verkehr muss stets damit rechnen, dass der Traktor kurzfristig abbiegt, und zwar auch ohne vorheriges Einordnen nach links.
Haftungsverteilung (hier): 50 % zu 50 %
AG Oberndorf, Urteil vom 08.02.2023, 10 C 265/22
Wenn ein Fahrzeugführer ein (verkehrsbedingt) stehendes Fahrzeug links überholen will, liegt auch dann eine unklare Verkehrslage vor, wenn dieses Fahrzeug nicht zur Fahrbahnmitte abgesetzt steht und auch kein Fahrtrichtungsanzeiger eingeschaltet ist (dann aber in eine Grundstückszufahrt einfahren bzw. in diese abbiegen will).
Mithaftung des Überholers hier zu 1/3.
OLG Hamm, Urteil vom 08.07.2022, 7 U 106/20
Die doppelte Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 StVO ist nicht gewahrt, wenn es zwar zu einem „doppelten Schulterblick“ kommt, der zweite Schulterblick jedoch nicht unmittelbar vor dem Abbiegen erfolgt.
Allein der Umstand, dass das vorausfahrende Fahrzeug seine Geschwindigkeit verringert und sich etwas zur Fahrbahnmitte einordnet, begründet noch keine unklare Verkehrslage, bei der ein Überholen nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO unzulässig ist. Bei einer solchen Sachlage kommt es auf die konkrete Verkehrssituation und die Örtlichkeit an. Wenn diese geeignet sind, Zweifel über die beabsichtigte Fahrweise des Vorausfahrenden aufkommen zu lassen, kommt eine unklare Verkehrslage in Betracht.
Die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Überholenden tritt nach gefestigter Rechtsprechung regelmäßig hinter das Verschulden desjenigen, der verkehrswidrig nach links abbiegt zurück.
Haftung (hier): 100 % zulasten des Linksabbiegers
OLG Nürnberg, Urteil vom 23.06.2022, 13 U 247/22
Kommt es – wie hier – in einem unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug, spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers (vgl. KG Berlin, Urteil vom 15.08.2005 – 12 U 41/05 -, juris, Rn. 3).
Kann dem Überholer bei Kollision mit dem vorausfahrenden Linksabbieger kein Verschulden nachgewiesen werden, tritt die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs gegenüber dem Verschulden des Linksabbiegers regelmäßig zurück (Anschluss KG BeckRS 2005, 12206).
Unklar ist eine Verkehrslage für einen Überholenden nur dann, wenn er aufgrund aller Gegebenheiten nicht zu überblicken vermag, dass er einen beabsichtigten Überholvorgang ohne Gefahren für andere durchführen kann. Ein relatives Langsamfahren des Vorausfahrenden in der Nähe einer Straßenabzweigung schafft ohne das Hinzutreten sonstiger Auffälligkeiten noch keine unklare Verkehrslage in dem Sinne, dass der Nachfahrende mit der unmittelbar zu verwirklichenden Absicht des Vorausfahrenden, nach links abzubiegen, rechnen müsste.
LG Lübeck, Urteil vom 06.10.2022, 14 S 13/22
Gemäß § 5 Abs. 3 StVO ist das Überholen bei unklarer Verkehrslage unzulässig. Eine unklare Verkehrslage im Sinne dieser Vorschrift liegt dabei generell dann vor, wenn nach allen Umständen des Einzelfalles mit einem ungefährdeten Überholen nicht gerechnet werden darf. Dies ist auch dann der Fall, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden (vgl. etwa , , Urteil vom 01.02.1999 – 12 U 8772/97BeckRS 1999, 15996).
Eine unklare Verkehrslage liegt auch dann vor, wenn das voranfahrende Fahrzeug seine Geschwindigkeit vor dem Überholvorgang erkennbar deutlich verlangsamt hat und dies in Verbindung mit der sonstigen Verkehrssituation und -örtlichkeit geeignet war, Zweifel über die beabsichtigte Fahrweise aufkommen zu lassen (, , Urteil vom 21.04.1993 – 9 U 18/92NZV 1994, 30 = BeckRS 2008, 18989).
Aber und wichtig zur Annahme einer unklaren Verkehrslage:
… entscheiden dort die Gerichte, dass die Herabsetzung der Geschwindigkeit allein noch keine unklare Verkehrssituation im obigen Sinne begründe (vgl. insb. KG Berlin, Urteil vom 1. Februar 1999 – 12 U 8772/97 –, Juris; KG Berlin, Urteil vom 15. August 2005 – 12 U 41/05 –, Juris; KG Berlin, Beschluss vom 13. August 2009 – 12 U 223/08 –, Juris; wohl auch OLG Koblenz, Urteil vom 26. Januar 2004 – 12 U 1439/02 –, Juris; LG Erfurt, Urteil vom 18. Juli 2007 – 2 S 361/06 –, juris). Dies steht nicht im Widerspruch zu den obigen Ausführungen, da sich in der hier zu entscheidenden Konstellation die Unklarheit der Verkehrssituation eben gerade nicht allein aus dem Stehenbleiben des Beklagten-Pkw ergab, sondern eben aus der Zusammenschau dieses Vorgangs mit der weiteren örtlichen Verkehrssituation (Stehenbleiben gerade vor einem die Weiterfahrt wegen des Gegenverkehrs störenden Hindernis – dem parkenden LKW) und dem konkreten Fahrverhalten der Zeugin (mittiges und damit eher für ein bei nächster Gelegenheit linksseitiges, das Hindernis umfahrendes Manöver sprechendes Fahrverhalten).
Bei allen Unterschieden in der jeweiligen Fallgestaltung ist ihnen gemein, dass die Gerichte das Vorliegen einer unklaren Verkehrslage nicht schematisch prüfen, sondern – wie hier – eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles vornehmen.
Und zum Thema Anscheinsbeweis für eine unklare Verkehrslage:
Entgegen der amtsgerichtlichen Ausführungen kann sich die hierzu beweisbelastete Beklagtenseite insoweit allerdings nicht auf einen Anscheinsbeweis stützen. Eine hierfür erforderliche typische Situation, die nach allgemeiner Lebenserfahrung den Rückschluss zulässt, dass der Fahrer des Linienbusses trotz einer im obigen Sinne unklaren Verkehrslage zum Überholen angesetzt hat, bestand nicht. Insbesondere lässt sich aus dem Umstand des Zusammenstoßes allein nichts verlässliches auf die Verkehrssituation bei Beginn des Überholmanövers schließen.
Quelle → VOLLTEXT über LINK JUSTIZ SH
OLG München, Urteil vom 06.12.2021, 10 U 1012/19
100% Haftung eines Linksabbiegers gegenüber einem Überholer … (ist aber eher die Ausnahme)
Nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO hat der Linksabbieger vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Bei einem korrekt eingestellten Außenspiegel kann nicht nur die Gegenfahrbahn, sondern auch die eigene Fahrbahn zurückliegend beobachtet werden. Eklatante Verstöße gegen die Pflichten des § 9 Abs. 1 StVO rechtfertigen es ausnahmsweise, die bei einem Überholmanöver als einem gefahrträchtigen Fahrvorgang in der Regel in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr vollständig hinter dem Verschulden des Linksabbiegers zurücktreten zu lassen.
Quelle → Beck-Verlag / beck-online / FD-StrVR 2021, 444149
Volltext → OLG München / Urteil vom 06.10.2021 / 10 U 1012/19
Anmerkung → Eine solche 100-%-Haftung ist eher die Ausnahme, aber das Finden der richtigen Haftungsquote ebenso schwer. Bei der Abwägung der Verantwortlichkeiten kommt es immer auf alle Umstände des Einzelfalls an. Im Grundsatz ist von einem Anscheinsbeweis zulasten des Linksabbiegers auszugehen. Fragen der (doppelten) Rückschaupflicht, des rechtzeitigen Setzens des Fahrtrichtungsanzeigers, den Elementen des § 9 Abs.1 StVO, welchselseitiger Betriebsgefahren und einer möglichen unklaren Verkehrslage für den Überholer stellen sich hier.
Da die Rechtsprechung viele Einzelfallentscheidungen in allen möglichen Nuancen getroffen hat, veröffentlichen wir hier auch nur ganz besondere Entscheidungen zu diesem Themenkreis.
OLG München, Urteil vom 22.12.2021 – 10 U 2299/21
Hier hälftige Haftung (Traktorgespann vs. PKW und Erkennbarkeit der Abbiegeabsicht)
Kollidiert ein Traktorgespann beim Linksabbiegen mit einem von hinten überholenden Pkw, der trotz Erkennbarkeit der Abbiegeabsicht – gesetzter Blinker – den Überholvorgang nicht abgebrochen hat, ist eine hälftige Haftung angemessen, wenn das Traktorgespann sich nicht zur Mitte der Fahrbahn eingeordnet hatte und gegen die zweite Rückschaupflicht verstoßen wurde.
Orientierungssatz aus Beck-Verlag / FD-StrVR 2022, 444907
OLG München, Urteil vom 09.03.2022 – 10 U 6476/21 e
Linksabbiegender Traktor verletzt die doppelte Rückschaupflicht vs. eine von hinten bei unklarer Verkehrslage überholenden, mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Pkw (innerorts mehr als 35 km/h zu schnell) führt zur Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Überholers.
Quelle → VOLLTEXT / OLG MÜNCHEN / 09.03.2022 / 10 U 6476/21 e
OLG Hamm, Urteil vom 03.12.2021 – 7 U 33/20
Einbiegen in Hofeinfahrt vs. unklare Verkehrslage (oder doch nicht)
1. Ein Einbiegen in eine Hofeinfahrt von einer Landstraße ohne doppelte Rückschau stellt einen Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 StVO dar.
2. Für das Unterlassen des rechtzeitigen Einsatzes des Fahrtrichtungsanzeigers entgegen § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO spricht zudem ein Anscheinsbeweis.
3. Beim Einbiegen in eine Hofeinfahrt von einer Landstraße ist weiterhin § 9 Abs. 5 StVO zu beachten.
4. Eine unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO liegt vor, wenn der Überholende nach den objektiv gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen darf. Allein eine Verringerung der Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs reicht hierfür nicht aus.
Und in der Abwägung haftet damit hier der nach links Abbiegende aus folgenden Überlegungen (so wörtlich die Entscheidungsgründe):
Im Ergebnis sind zulasten der Beklagten Verstöße des Beklagten zu 1) gegen § 9 Abs. 1 Satz 2, Satz 4 StVO sowie § 9 Abs. 5 StVO in die Abwägung einzustellen. Auf Seiten des Klägers ist die einfache Betriebsgefahr in Ansatz zu bringen. Die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Überholenden tritt regelmäßig hinter dem Verschulden desjenigen, der verkehrswidrig nach links abbiegt, vollständig zurück (vgl. nur , beck-online; Urt. v. 30.7.2020 – 14 U 13/18, Rn. 41 [unter e]). Dies gilt auch im vorliegenden Fall, da der Verkehrsunfall maßgeblich auf die Missachtung der zweiten Rückschaupflicht durch den Beklagten zu 1) zurückzuführen ist. Zu berücksichtigen ist des Weiteren, dass den Beklagten zu 1) erhöhte Sorgfaltsanforderungen trafen, da er nach Urt. v. 15.8.2005 – 12 U 41/05§ 9 Abs. 5 StVO eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen hatte.
AG Hamburg-Harburg, Urteil vom 14.7.2023 – 641 C 4/23
Kollision zwischen einem wendenden Gespann und einem dieses verbotswidrig über eine Sperrfläche überholenden Pkw
1. Kommt es bei einem Wendemanöver dennoch zu einem Schadenereignis, streitet der Beweis des ersten Anscheins gegen den Wendenden dahin, dass dieser die ihm obliegende Sorgfalt nicht hinreichend beachtet hat, § 9 Abs. 5 StVO.
2. Kommt es zu einer Kollision zwischen einem Wendenden und einem diesen links überholenden Kraftfahrzeug, streitet ein Anscheinsbeweis für eine Pflichtverletzung des Wendenden mit Blick auf die zweite Rückschau; denn es kann in aller Regel davon ausgegangen werden, dass für den Fall, dass der Wendende unmittelbar vor dem Manöver noch einmal einen Schulterblick vornimmt, den Überholer wahrnimmt und es in der Folge nicht zu einer Kollision mit diesem kommt.
3. Die Pflicht zur zweiten Rückschau gemäß § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO ist ausnahmsweise dann entbehrlich, wenn ein Überholen des Wendenden aufgrund baulicher Gegebenheiten technisch nicht möglich ist oder wenn ein Linksüberholen im besonderen Maße verkehrswidrig wäre und aus diesem Grund so fern liegt, dass sich der Wendende auch unter Berücksichtigung der ihn treffenden gesteigerten Sorgfaltspflicht auf eine solche Möglichkeit nicht einzustellen braucht.
4. Ein solcher Ausnahmefall liegt dann nicht vor, wenn der Überholer entgegen Nr. 72 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO verbotswidrig eine Sperrfläche (Zeichen 298) überfährt, da im alltäglichen Verkehr Sperrflächen häufig als Verkehrsfläche missbraucht und überfahren werden.
5. Kommt es zwischen einem zu einem Wendemanöver ansetzenden Gespann und einem dieses verbotswidrig unter Inanspruchnahme einer Sperrfläche überholenden Pkw zur Kollision, ist daher eine hälftige Schadenteilung angemessen.
Quelle: SVR 2024, 149
AG Celle, Urteil vom 11.10.2023, 110 C 510/23
Das Überholen eines anderen KFZ in einer sog. Spielstraße ist verboten.
Beim Unfall mit einem in Schrittgeschwindigkeit fahrenden Linksabbieger (hier auf einen Parkplatz) “kostet” das eine Mithaftung von 50%.
AG Brandenburg, Urteil vom 28.11.2924 – 30 C 104/23
Unfall beim Abbiegen in einen Feld-/Waldweg
Feld- und Waldwege sind zwar keine Grundstücke im Sinne von § 9 Abs. 5 StVO, jedoch können es die konkreten Umstände erfordern, dass ein nach links in einen Feld- oder Waldweg abbiegender Verkehrsteilnehmer eine gesteigerte, den in § 9 Abs. 5 StVO normierten Pflichten gleichkommende Vorsicht zu beachten hat.
Quelle: VRR 2025, 01, Seite 3
20. Anfahren vom Fahrbahnrand vs. fließender Verkehr und Anfahren vom Fahrbahnrand vs. Fahrstreifenwechsel des fließenden Verkehrs
BGH, Urteil vom 8. März 2022 – VI ZR 1308/20
Auch das Befahren des linken Fahrstreifens durch den am fließenden Verkehr teilnehmenden Fahrzeugführer beseitigt nicht die Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern (vgl. Senatsurteile vom 20. September 2011 – VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 8 mwN; vom 13. November 1990 – VI ZR 15/90, NJW-RR 1991, 536, juris Rn. 12 f.). Der Einfahrende kann nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibt. Vielmehr muss er stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen (KG, NZV 2004, 632, 633, juris Rn. 12).
BGH, Urteil vom 8. März 2022 – VI ZR 1308/20
Fahrstreifenwechsel vs. Anfahrender / Einfahrender
Nach § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. “Anderer Verkehrsteilnehmer” ist an sich grundsätzlich jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt (vgl. Senatsurteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 231/17, VersR 2018, 957 Rn. 12 zu § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO; BGH, Beschluss vom 25. November 1959 – 4 StR 424/59, BGHSt 14, 24, 27 zu § 1 StVO; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 1 StVO Rn. 17 mwN). Im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ist “anderer Verkehrsteilnehmer” aber nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende (vgl. KG, NZV 2004, 632, 633, juris Rn. 13; KG, NZV 2006, 369, 370, juris Rn. 25; KG, NZV 2008, 413, 414, juris Rn. 8; KG, NJW-RR 2011, 26, 27, juris Rn. 14; OLG München, NJW-RR 1994, 1442, 1443, juris Rn. 5; OLG München, Urteil vom 17. Dezember 2010 – 10 U 2926/10, juris Rn. 5; OLG Naumburg, NJW-RR 2013, 737, juris Rn. 20;
Müsste der Fahrstreifenwechsler gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, auch gegenüber Einfahrenden, dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen wie der Einfahrende wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber. Dies wäre schwerlich mit dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs (vgl. hierzu Senatsurteil vom 20. September 2011 – VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 8 f.; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1978 – 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9 f.) vereinbar.