→ → → → → → → → →
Da Bußgeldverfahren in unserer Praxis eine große Bedeutung haben, verfügen wir über einen reichen Fundus an aktueller Rechtsprechung rund um Bußgeldbescheid, Geldbuße, Punkte, Fahrverbot und Co. In der täglichen Arbeit zeigt sich aber auch der stete Kampf um Messfehler, Messvoraussetzungen, Bedienungsanleitungen und die einzelnen Messverfahren. Und da diese Materie eine so große Bandbreite hat, widmen wir dem Thema nun auch (endlich) eine eigene Rubrik. Also von heute an gibt es hier Stoff zu allen möglichen Messverfahren.
Und diese amtlichen Messverfahren für Geschwindigkeit und Rotlicht gibt es übrigens (wobei die Verbreitung in den einzelnen Bundesländern und Landkreisen auch sehr unterschiedlich ist):
Mobile Geschwindigkeitsmessanlagen
Einseitensensor ES1.0
Einseitensensor ES3.0
Einseitensensor ES8.0
Traffipax Speedophot (auch stationär als “Radarkabine”)
Lichtschrankenmessgerät ESO µP80-4
PoliScanSpeed (mobil / stationär)
Stationäre Geschwindigkeitsmessanlagen
Multanova 6F / Multanova 6F digital / Multanova 6FAFB
TraffiStar S330
PoliScan Enforcement Trailer (semi-stationär)
PoliScan F1 HP (kombinierte Geschwindigkeits- / Rotlichtüberwachung)
Handmessgeräte
Lasermessgerät Riegl FG21-P
Lasermessgerät Riegl LR90-235/P
LaserPatrol
TraffiPatrol XR
LAVEG
Leivtec XV 2
Leivtec XV 3
LTI 20.20 (auch LTI 20/20 TS/KM / LTI 20/20 TruSpeed)
Video-Nachfahrsystem
ProVida 2000 (Modular)
Rotlichtüberwachungsanlage
Multafot (kommt aber kaum noch zur Anwendung)
Kombinierte Rotlicht- und Geschwindigkeitsmessanlagen
Multanova MultaStar C (sog. “Ampelblitzer”)
PoliScan F1 HP
Abstandsüberwachung
VIDIT VKS 3.0 / VKS 3.01 / VKS 4.5
VAMA (Abkürzung für Videoabstandsmessanlage)
Sonderfälle
Geschwindigkeitsmessung durch Hinterherfahren (Tachoablesen / Stoppuhr)
Rotlichtmessung durch Stoppuhr und “Zählen” bzw. “Beobachten”
ESO 3.0
OLG Hamm, Beschluss vom 02.08.2012 – II-3 RBs 178/21
ESO 3.0 – Fotolinie und der aufmerksame Messbetrieb
… stellt die Fotolinie bei der Geschwindigkeitsmessung mit dem Geschwindigkeitsüberwachungsgerät ES 3.0 lediglich ein Mittel der eindeutigen Zuordnung der Messung zu einem bestimmten Fahrzeug dar, ist aber – anders als die Messlinie – selbst kein Fixum für die Messung (vgl. OLG des Landes Sachsen-Anhalt, 1. Senat für Bußgeldsachen, Az.: 1 Ss (B) 76/10 vom 25.10.2010 – juris.de; AG Landstuhl, Urteil vom 10.02.2011 – Az.: 4286 Js 12300/10, veröffentlicht bei BeckRS 2011, 06033; Schmuck, Steinbach: Neues von der Geschwindigkeitsmessanlage ESO, Steinbach, NZV 2010, 285). Da die Fotolinie lediglich für die Frage der Zuordnung von Relevanz ist, kommt es auf sie nur an, wenn tatsächlich Verwechslungsgefahr bzw. Zuordnungszweifel bestanden. Soweit – wie hier – auf andere Weise, etwa durch einen aufmerksamen Messbetrieb, sichergestellt werden kann, dass nur ein Fahrzeug in Frage kommt, dem der Geschwindigkeitsmesswert zuzuordnen ist, entbehrt die Fotolinie jeglicher Relevanz (OLG des Landes Sachsen-Anhalt, a.a.O., Zitate wie vor).
OLG Bamberg, Beschluss v. 15.12.2017 – 2 Ss OWi 1703/17
Kein standardisiertes Messverfahren bei Geschwindigkeitsmessung mit Einseitensensor ES3.0 mit ungeeichter Zusatzfotoeinrichtung
Eine von der Bedienungsanleitung relevante Abweichung liegt bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem sog. Einseitensensor vom Typ ‘ES3.0’ vor, wenn die gerätespezifische Fotodokumentation der Messung allein durch eine funkgesteuerte, jedoch ungeeichte Zusatzfotoeinrichtung und nicht auch durch die nach der Bedienungsanleitung vorgesehenen eichpflichtigen und mittels Kabel mit der Rechnereinheit verbundenen Fotoeinrichtungen erfolgt.
Quelle → VOLLTEXT / OLG Bamberg vom 15.12.2017 – 2 Ss OWi 1703/17
ESO 8.0
OLG Dresden, Beschluss v. 17.1.2022, OLG 22 Ss 809/20 (B)
Wenn die Geschwindigkeitsmessung nebst Bilderfassung mit dem Einseitensensor ES 8.0
ausschließlich von der linken Fahrbahnseite aus erfolgt
und auf dem Messfoto neben dem vom Betroffenen geführten PKW ein weiteres Kraftfahrzeug abgebildet ist,
sind dies konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler.
Dies wiederum führt dazu, dass das Tatgericht gehalten ist, das Messergebnis – i.d.R. unter Hinzuziehung eines technischen Sachverständigen – zu überprüfen und sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen.
Gemäß Gebrauchsanweisung der eso GmbH muss sich die für das Frontfoto der jeweiligen Fahrtrichtung vorgesehene Fotoeinrichtung in Fahrtrichtung gesehen rechts der Fahrbahn befinden.
POLISCAN SPEED
AG Stralsund, Urteil vom 07.12.2021, 323 OWi 630/21
Geschwindigkeitsmessungen mit POLICSAN SPEED FM 1 sind nicht verwertbar – ohne Rohmessdaten eben nur “Blackbox”
Er (gemeint ist der Betroffene) hat auch keine Möglichkeit, auf andere Weise auf diese (gemeint sind die Rohmessdaten) zuzugreifen, da die Unternehmen (gemeint sind der / die Hersteller) und die PTB die Quellcodes der Geräte geheim halten. Dies hat im Ergebnis zur Folge, dass ein Betroffener weder die konkrete Messung in irgendeiner Form überprüfen kann, noch überhaupt nur die Funktionsweise eines Messgerätes diesen Typs. Für ihn ist das Messgerät eine “Blackbox‘ und ihm bleibt nur möglich, darauf zu vertrauen, dass die PTB-Überprüfung des Gerätes Messfehler 100%ig ausschließt.
Wir danken den geschätzten Kollegen Blume/Kischko/Barra-Ottl aus Greifswald für diesen großartigen Sieg und den wunderbaren Erfahrungs- und Wissensaustausch!
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.8.2021 – IV-2 RBs 145/21
PoliScan Speed und der Auswerterahmen bzw. die “Behelfslinie” / Messfoto / Gebrauchsanweisung
Sind nach einer Geschwindigkeitsmessung mit dem Laserscanner PoliScan die bei der Verwendung des Auswerterahmens zu beachtenden Auswertekriterien erfüllt, bedarf es für die Zuordnung des Fahrzeugs in den Urteilsgründen jedenfalls dann keiner Ausführungen zu der Position der Hilfslinie, wenn allein das Fahrzeug des Betroffenen auf dem Messfoto abgebildet ist.
Aus den Gründen:
In der Rechtsprechung ist hinreichend geklärt, dass es sich bei der Geschwindigkeitsmessung mit dem Laserscanner PoliScan um ein standardisiertes Messverfahren handelt (vgl. zu dem hier verwendeten Gerätetyp PoliScan M1 HP: OLG Braunschweig BeckRS 2017, 160492; OLG Zweibrücken BeckRS 2020, 5104; KG Berlin BeckRS 2020, 31900).
Die Beanstandung des Betroffenen, das angefochtene Urteil enthalte keine Ausführungen zu der „Behelfslinie“, ist nicht entscheidungserheblich.
Mit der ungebräuchlichen Bezeichnung „Behelfslinie“ meint der Betroffene offenbar die zum Grafikteil des Falldatensatzes gehörende Hilfslinie (vgl. Nr. 9.2 der Gebrauchsanweisung, Software-Version 3.7.4). Neben dem bekannten trapezförmigen Auswerterahmen enthält der Grafikteil bei Geschwindigkeitsverstößen zusätzlich eine Hilfslinie, die einem Maßstab der Breite 0,5 m entspricht. Dieser Wert kommt der Standardbreite von 0,52 m nahe, die ein einzeiliges Kfz-Kennzeichen aufweist (Abschnitt 1 Nr. 1 lit. a der Anlage 4 zur FZV).
Die in das Messfoto eingeblendete Hilfslinie visualisiert die Abtastebene durch das Messsignal, d. h. die Hilfslinie stellt die Mittelebene des sich aufweitenden Lasers optisch dar (vgl. PTB-Mitteilungen 2019, Heft 2, S. 79 u. 82; Smykowski NZV 2018, 358, 359).
Nach Nr. 9.5 der Gebrauchsanweisung müssen folgende Auswertekriterien erfüllt sein, um die im Datenfeld angezeigte Geschwindigkeit dem im Auswerterahmen positionierten Fahrzeug zuzuordnen:
Bei Frontmessung müssen sich zumindest teilweise ein Vorderrad und/oder das Kennzeichen des Fahrzeugs innerhalb des Auswerterahmens befinden.
Weitere Verkehrsteilnehmer, die sich auf der gleichen oder einer unmittelbar benachbarten Fahrspur in gleicher Fahrtrichtung bewegen, dürfen innerhalb des Auswerterahmens auch nicht teilweise zu sehen sein.
Die Unterseite des Auswerterahmens muss sich unterhalb der Räder befinden.
Diese Auswertekriterien sind nach den getroffenen Feststellungen vorliegend uneingeschränkt erfüllt.
Ausführungen zu der Position der Hilfslinie bedurfte es bei dieser eindeutigen Sachlage in den Urteilsgründen nicht. Die Gebrauchsanweisung sieht bei der Zuordnung des Fahrzeugs eine zusätzliche Heranziehung der Hilfslinie auch nicht vor. Die unabhängig von dem Auswerterahmen generierte Hilfslinie kann für eine zweifelsfreie Zuordnung allenfalls bei der Abbildung von zwei oder mehr Fahrzeugen in gleicher Fahrtrichtung von Bedeutung sein.
Anmerkung (von uns):
Wir kennen nicht die genauen Hintergründe für dieses Verfahren und die Verteidigungsstrategie, aber derzeit dürfte die Idee effektiver sein, der Verwertung des Messergebnisses wegen nicht ausreichend erfolgter Speicherung von Messdaten zu widersprechen (siehe z.B. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.08.2021 – IV-2 RBs 136/21). Wichtig ist aber, dass zur rechten Zeit Antrag auf Akteneinsicht gestellt wird und auch an der richtigen “Stelle” weitergehende Anträge vorgebracht sowie aktenkundig gemacht werden. Ohne dieses hat die beste Idee kaum Aussicht auf Erfolg.
TRAFFISTAR S350
AG Stade, Urteil vom 23.09.2021, 34 OWi 2530 Js 28725/20
Für die Annahme eines standardisierten Messverfahrens ist ein Eichnachweis für den Zeitpunkt der Messung zu erbringen.
Dies ist nicht der Fall, wenn beim stationären Traffistar S350 nur die Eichmarken geprüft werden, die ohne Ausbau aus der Säule erkennbar sind und nicht auch die, die erst nach dem Ausbau der Säule wahrzunehmen sind.
Quelle: Die Verkehrsanwältin (DV), 3/2022, Seite 158
RIEGL FG-21 P
Verfahrenseinstellung mangels “Fotodokumentation” – das Saarland lässt mal wieder aufhorchen
OLG Saarbrücken, Beschluss vom 02.11.2021 – SsBs 100/2021 (68/21 OWi)
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 05.07.2019 (Az. Lv 7/17) fehlt es bereits dann an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren, wenn sich eine Verurteilung wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes nur auf das dokumentierte Messergebnis und das Lichtbild des aufgenommenen Kraftfahrzeuges und seines Fahrers stützen kann und der Betroffene sich mit der Begründung gegen das Messergebnis wendet, auf Grund der fehlenden Speicherung der sogenannten Rohmessdaten als Grundlagen der Messung sei ihm keine nachträgliche Plausibilisierung des Messergebnisses möglich (vgl. UA S. 17). Ausgehend von dieser Annahme muss dies erst recht für Messverfahren gelten, bei denen – wie bei dem Messverfahren Riegl FG 21-P – weder Messfoto noch Rohmessdaten vorhanden sind, die eine (technische) Überprüfung des Messergebnisses ermöglichen würden.
Da aus den genannten Gründen zu erwarten ist, dass das angefochtene Urteil einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes nicht standhalten würde, erscheint eine Verfahrenseinstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG angezeigt.
“Kritische” Anmerkung von uns → Die Entscheidung folgt konsequent dem vieldiskutierten Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichtshofes (wie oben auch zitiert) und damit den Vorgaben dieser Rechtsprechung – aber eben für das Saarland. Wer nun hofft, dass die Meinung des OLG Saarbrücken (und übrigens der zuvor zugunsten einer Einstellung vortierten GenStA Saarbrücken) Schule macht, der wird wahrscheinlich enttäuscht sein. Es ist nicht wirklich zu erwarten, dass die Amts- und Oberlandesgerichte der anderen Bundesländer diese Sichtweise – jedenfalls nicht so schnell – übernehmen werden. Wir gehen nicht davon aus, dass in der Richterschaft Jubel ausbricht und ein Nachahmungseffekt einsetzt – ganz im Gegenteil. Man möge sich nur einmal vorstellen, was es bedeuten würde, wenn alle Messverfahren, bei denen die sog. Rohmessdaten nicht gespeichert werden, “unverwertbar” sein sollen (und das beträfe nach aktuellem technischen Stand zahlreiche Messverfahren). Und die Handlaser-Messverfahren, bei denen naturgemäß gar keine technische Dokumentation erfolgt, würden gänzlich “durchfallen”.
Für die Anwaltschaft bedeutet es noch viel Arbeit und auch Kampf gegen Windmühlen, um die Auffassung der saarländischen Rechtsprechung auch in andere Bundesländer zu tragen. Aber es gibt auch immer wieder Lichtblicke.
OLG Koblenz, Beschluss vom 12.08.2005 – 1 Ss 141/05
Ohne ordnungsgemäße Gerätetests kein standardisiertes Messverfahren (hier: der Align-Test bei RIEGL FG 21 P)
Von einem standardisierten Messverfahren kann nur dann gesprochen werden, wenn das Gerät von seinem Bedienungspersonal auch wirklich standardmäßig, d.h. in geeichtem Zustand, seiner Bauartzulassung entsprechend und gemäß der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungs-/Gebrauchsanweisung verwendet wird, und zwar nicht nur beim eigentlichen Messvorgang, sondern auch bei den ihm vorausgehenden Gerätetests.
Denn nur durch diese Tests kann mit der für eine spätere Verurteilung ausreichenden Sicherheit festgestellt werden, ob das Gerät in seiner konkreten Aufstellsituation tatsächlich mit der vom Richter bei standardisierten Messverfahren vorausgesetzten Präzision arbeitet und so eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stellt. Nach den Urteilsfeststellungen wurde beim Align-Test gegen die “Herstellervorgaben” (womit ersichtlich die Bedienungs- bzw. Gebrauchsanweisung gemeint ist) verstoßen. Diese schreiben vor, dass der Align-Tests, der den ordnungsgemäßen Zustand der entscheidend wichtigen Visiereinrichtung gewährleisten soll und somit von zentraler Bedeutung für eine einwandfreie Gerätefunktion ist, innerhalb eines Entfernungsbereichs von 150 bis 200 m vorzunehmen ist. Tatsächlich wurde bei diesem Test aber ein Ziel in nur 133 m Entfernung angepeilt. Die Bedienungs-/Gebrauchsanweisung bzw. -anleitung, in der die Testmodalitäten festgelegt sind, ist Bestandteil der Bauartzulassung zur Eichung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt. Auch der Eichschein selbst nimmt, wie dem Senat aus vielen Bußgeldverfahren bekannt ist, ausdrücklich auf die Bedienungsanleitung Bezug, wobei regelmäßig Formulierungen wie “Durch das Ergebnis der Prüfung wird gewährleistet, dass das Laser-Geschwindigkeitsmessgerät die Verkehrsfehlergrenzen einhält, wenn es gemäß der Bedienungsanleitung gehandhabt wird” oder ähnlich Verwendung finden. Die Einhaltung der Gebrauchsanweisung des Geräteherstellers ist somit in dem Sinne verbindlich, dass nur durch sie das hierdurch standardisierte Verfahren, d. h. ein bundesweit einheitliches, korrektes und erprobtes Vorgehen, sichergestellt ist. Kommt es im konkreten Einzelfall zu Abweichungen von der Gebrauchsanweisung, so handelt es sich in diesem Falle nicht mehr um ein standardisiertes Messverfahren, sondern um ein individuelles, das nicht mehr die Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Das Gerät ist dann auch nicht mehr als ein geeichtes anzusehen, weil das im Eichschein verbriefte Prüfergebnis bezüglich der Einhaltung der Verkehrsfehlergrenzen für eine solche Art der Bedienung (besser: Fehlbedienung) keine Gültigkeit besitzt. Es liegen dann konkrete Anhaltspunkte für die Möglichkeit von Messfehlern vor mit der Folge, dass das Gericht, wenn es die Verurteilung auf ein solches, durch den Mangel eines Verstoßes gegen die Gebrauchsanweisung belastetes Messergebnis stützen will, dessen Korrektheit individuell zu überprüfen hat.
LEIVTEX XV3
LEIVTEC XV3 hat ein grundsätzliches Problem
OLG Celle, Beschluss vom 18.06.2021, 2 Ss (Owi) 69/21
1. Bei sämtlichen Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 liegt derzeit kein vereinheitlichtes (technisches) Verfahren mehr vor, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind.
2. Die Richtigkeit des ermittelten Geschwindigkeitswertes ist bei Messungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 derzeit unabhängig davon, ob das sog. Messung-Start-Foto die in der am 14. Dezember 2020 geänderten Gebrauchsanweisung genannten Anforderungen erfüllt und ob es sich um eine Rechts-, Links- oder Geradeausmessung handelt, nicht mehr garantiert.
Hinweise zum Tenor und aus den Gründen:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Walsrode zurückverwiesen.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgende Umstände hin:
Das Amtsgericht wird mithilfe eines Sachverständigen zu prüfen haben, ob es bei der vorliegenden Geschwindigkeitsmessung zu unzulässigen Messwertabweichungen gekommen sein könnte. Der Sachverständige wird sich, ggf. nach Rücksprache mit der PTB bzw. den von der PTB zitierten Sachverständigen, mit möglichen Fehlerquellen bei der Messung auseinanderzusetzen haben, die sich zulasten des Betroffenen ausgewirkt haben könnten.
OLG Oldenburg vom 20.04.2021 – 2 Ss (OWi) 92/21
Einstellung des Verfahrens auch dann, wenn das sog. Messung-Start-Foto die in der am 14.12.2020 geänderten Gebrauchsanweisung genannten Anforderungen erfüllt, (Ergänzung zu Senat, ).
Ergänzung aus den Beschlussgründen:
Die Kundeninformation der Leivtec Verkehrstechnik GmbH vom 12.3.2021, mit der sie ihre Kunden bittet, von weiteren amtlichen Messungen vorerst Abstand zu nehmen, ist auf deren Webseite abrufbar.
Hier auch der entsprechende LINK zur Seite des Herstellers → LEIVTEC Kundeninfo vom 12.03.2021 (soweit verfügbar)
AG Cloppenburg, Beschluss vom 06.08.2021 – 18 OWi 775 Js 46945/21 (611/21)
Das AG Cloppenburg gibt unter Verweis auf die Entscheidung des OLG Oldenburg vom 20.04.2021 – 2 Ss (OWi) 92/21 dem Wiederaufnahmeantrag statt.
Quelle → Entscheidung zu finden bei IWW unter diesem LINK
Wiederaufnahme auch bestätigt durch
AG Bad Saulgau, Beschluss vom 02.02.2022 – 1 OWi 25 Js 10148/20
OLG Oldenburg vom 16.03.2021 – 2 Ss (OWI) 67/21
1. Beim Messgerät Leivtec XV 3 ist messtechnisch die Richtigkeit des ermittelten Geschwindigkeitswertes zumindest in den Fällen nicht garantiert, in denen das sog. Messung-Start-Foto die in der am 14. Dezember 2020 geänderten Gebrauchsanweisung genannten Anforderungen schon nicht erfüllt.
2. Ob auch Messungen, bei denen diese Anforderungen erfüllt werden, fehlerbehaftet sein können, kann hier dahinstehen.
OLG Oldenburg vom 19.07.2021 – 2 Ss(OWi) 170/21
Bei Messungen mit dem Messgerät Leivtec XV 3 handelt es sich derzeit nicht um ein standardisiertes Messverfahren.
Und ohne Messgutachten wird es aktuell nicht gehen, denn Konsequenz des Nichtvorliegens eines standardisierten Messverfahrens ist, dass sich das Amtsgericht im Einzelfall von der Richtigkeit der Messung überzeugen muss. Dazu wird es sich sachverständiger Hilfe bedienen müssen.
Quelle: aus Beck-Verlag, BeckRS 2021, 19614
BayObLG, Beschluss v. 12.08.2021 – 202 ObOWi 880/21
Gegenwärtig nicht standardisierte Geschwindigkeitsmessungen bei Einsatz des Messgeräts ‚Leivtec XV3‘
Bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät ‚Leivtec XV3‘ kann jedenfalls gegenwärtig nicht (mehr) von einem die Anerkennung als ‚standardisiertes Messverfahren‘ rechtfertigenden vereinheitlichten (technischen) Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf derart festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind, ausgegangen werden (Anschluss an OLG Stuttgart, Beschluss vom 10.06.2021 – 6 Rb 26 Ss 133/21 = BeckRs 2021, 14050; OLG Celle, Beschluss vom 18.06.2021 – 2 Ss [OWi] 69/21 und OLG Oldenburg, Beschluss vom 19.07.2021 – 2 Ss [OWi] 170/21, jew. bei juris).
Quelle → VOLLTEXT / BayObLG / 202 ObOWi 880/21
OLG Dresden, Beschluss vom 02.11.2021 – 23 Ss 334/21 Z
(bisher nicht veröffentlicht / gefunden bei VRR 2021, Heft 11, 3)
AG Eilenburg, Urteil vom 30.09.2021, 8 OWi 956 Js 12381/21
1. Bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem hier zum Einsatz gekommenen Messgerät LEIVTEC XV3 kann auch nach der abschließenden Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt vom 09.06.2021 nicht mehr von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden kann.
2. Soweit (insbesondere voreintragungsfreie) Betroffene in derartigen Fällen mit einer Einspruchsbeschränkung auf die Rechtsfolgen Schuldeinsicht zeigen und hiermit das andernfalls erforderliche Sachverständigengutachten nicht zum Tragen lassen kommen, ist es sachgerecht, sie in “Fahrverbotsfällen” nicht mit der Regelfahrverbotsanordnung zu überziehen, sondern es als verkehrserzieherisch ausreichend zu erachten, die ohne Fahrverbot als tat- und schuldangemessen anzusehende Geldbuße angemessen zu erhöhen.
Quelle → VOLLTEXT bei IWW / Direkt-Link
Und ganz anders (aber auch mit Stirnrunzeln zu betrachten)
OLG Schleswig, Beschluss vom 17.08.2021 – II OLG 26/21
1. Die Tatsache, dass bei einem bisher als „standardisiertes Messverfahren“ der Geschwindigkeit anerkanntem Messverfahren ein besonderer Messaufbau unzutreffende Messergebnisse liefert, spricht nicht gegen die Annahme eines sogenannten standardisierten Messverfahrens, wenn bei gleichem Versuchsaufbau stets gleiche Messergebnisse erzielt werden.
2. Bei dem Messverfahren mit dem Gerät Leivtec XV3 handelt es sich um
ein standardisiertes Messverfahren auch unter Berücksichtigung des
Abschlussberichts der Überprüfungen durch die Physikalisch-Technische
Bundesanstalt vom 9.6.2021.
Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen:
Der Senat sieht sich nicht gehalten, die Sache dem Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 GVG vorzulegen, da der Senat nicht von der zitierten einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Definition eines standardisierten Messverfahrens und zu den Anforderungen an die Feststellungen des Tatrichters abweicht.
TRAFFIPAX SpeedoPhot
OLG Zweibrücken vom 25.09.2019, 1 OWi 2 SsBs 33/19
Aufmerksamer Messbetrieb – TRAFFIPAX SpeedoPhot
Eine Verschiebung des Bildausschnittes in vertikaler Richtung kann ein Indiz dafür sein, dass der nach der Betriebsanleitung bei der Verwendung des Messgerätes TRAFFIPAX SpeedoPhot erforderliche aufmerksame Messbetrieb nicht stattgefunden hat, was zur Folge hätte, dass kein standardisiertes Messverfahren angewendet wurde.
ProViDa 200 Modular
OLG Hamm, Beschluss vom 09.01.2023, 5 RBs 334722
Messung durch nachfahrendes Motorrad – Schrägfahrt
Die Geschwindigkeitsmessung mittels des ProVida-Systems durch ein während des Messvorgangs in Schrägfahrt nachfahrendes Polizeimotorrad genügt nicht den Anforderungen, welche an ein standardisiertes Messverfahren zu stellen sind.
Quelle: VRR 2023, Heft 2, Seite 3
OLG Hamm, Beschluss vom 10.03.2020, 4 RBs 87/20
ProViDa 200 Modular – manueller Betrieb – Toleranzabzug
Zum Toleranzwert bei Ermittlung der Geschwindigkeit mittels Nachfahrens mit einem Motorrad unter Verwendung der Anlage ProViDa 2000 Modular und unter manueller Berechnung der Geschwindigkeit anhand des aufgenommenen Messfilms.
… weist der Senat darauf hin, dass ggf. auch zu prüfen bzw. anhand der Vorgaben der Bedienungsanleitung abzuklären sein wird,
ob ein höherer Toleranzwert in Ansatz zu bringen ist, als der im angefochtenen Urteil im Rahmen der Berechnung vorgenommene Toleranzabzug von 4% hinsichtlich der Wegstrecke und der Toleranzaufschlag von 0,1% vermehrt um 0,02 Sekunde hinsichtlich der Messzeit
(vgl. dazu Golder in: Ludovisy/Eggert/Burhoff (Hrsg.), Praxis des Straßenverkehrsrechts, 6. Aufl., Rdn. 83 f., der es für nicht nachvollziehbar hält, dass unterschiedliche Toleranzgrenzen bei geräteseitiger und manueller Geschwindigkeitsberechnung gelten sollen, obwohl die Messdaten auf gleichem Wege erfasst und aufgezeichnet werden; ferner auch AG Lüdinghausen a.a.O., wo ein Gesamttoleranzabzug von im Ergebnis 5 km/h bei einer Geschwindigkeit unterhalb von 100km/h vorgenommen worden ist, das also offenbar von einem Toleranzwert von 5%, mindestens aber 5 km/h ausgeht).
AG Castrop-Rauxel, Urteil vom 26.08.2022 – 6 OWi 264 Js 1170/22-486/22
Die mit dem Pro Vida 2000 Modular im Messmodus „MAN“ nachträglich
durchgeführte Messung ist kein standardisiertes Messverfahren, so dass
nähere Ausführungen zur Geschwindigkeitsfeststellung erforderlich sind
(Anschluss an OLG Hamm, Beschl. v. 22.6.2017, 1 RBs 30/17).
Vidit VKS 3.0 / 3.1 …
OLG Rostock, Beschluss vom 18.08.2014, 21 Ss OWi 144/14
250 bis 300 Meter vs. 150 m und 3 Sekunden oder … was ?
1. Für die Ahndung eines Abstandsverstoßes ist es erforderlich, dass die Abstandsunterschreitung nicht nur ganz vorübergehend ist.
2. Bei der Frage, wann eine Abstandsunterschreitung nicht nur vorübergehend ist, wird die zeitliche Komponente eine tragende Rolle spielen.
3. Bei einer Messstrecke von 100 m, einem Abstand zum Vorderfahrzeug von 20 m, bei Unklarheiten bezüglich vor und hinter dem Fahrzeug das Fahrverhalten beeinflussender Fahrzeuge und unklarer Geschwindigkeit bestehen erhebliche Zweifel am Vorliegen einer vorwerfbaren Abstandsunterschreitung.
Aus den Gründen:
Für die Ahndung eines Abstandsverstoßes ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes wie auch der Obergerichte erforderlich, dass die Abstandsunterschreitung nicht nur ganz vorübergehend ist. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es Situationen geben kann, wie z. B. das plötzliche Abbremsen des Vorausfahrenden oder einen abstandsverkürzenden Spurwechsel eines vorausfahrenden Fahrzeugs, die kurzzeitig zu einem sehr geringen Abstand führen, ohne dass dem Nachfahrenden allein deshalb eine schuldhafte Pflichtverletzung angelastet werden könnte (OLG Hamm NZV 1994, 120; = , Beschl. v. 02.05.2002 – 1 Ss 75/02BeckRS 2002, 30257446; = , Beschl. v. 10.07.2007 – 1 Ss 197/07BeckRS 2008, 08770; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 4 Rdn. 22)
Wann eine nicht nur ganz vorübergehende Abstandsunterschreitung vorliegt, wird in der Rechtsprechung der Obergerichte unterschiedlich beurteilt. Einige Gerichte halten eine Strecke von 250 – 300 m, in der die Abstandsunterschreitung vorliegen muss, für ausreichend (vgl. OLG Celle NJW 1979, 325; OLG Düsseldorf NZV 2002, 519; OLG Karlsruhe NJW 1972, 2235). Andere lassen jedenfalls 150 m ausreichen, wenn die Messung in einem standardisierten Messverfahren durchgeführt wurde, ein kurz zuvor erfolgter Spurwechsel eines vorausfahrenden Fahrzeugs ausgeschlossen werden kann und die Dauer der abstandsunterschreitenden Fahrt mehr als 3 Sekunden betrug (OLG Hamm DAR 2013, 656203; vgl. auch OLG Köln VRS 66, 463; König a. a. O. Rdn. 22; vgl. aber auch BayObLG, NZV 1994, 241 für den Fall dreimaligen Auffahrens für jeweils 1 Sekunde bei einer Abstandsunterschreitung von weniger als 10 m).
Im Gesetz selbst ist keine Mindestdauer als Voraussetzung der Ahndung einer vorwerfbaren Abstandsunterschreitung geregelt.
Bei der Frage, wann eine Abstandsunterschreitung nicht nur vorübergehend ist, wird die zeitliche Komponente eine tragende Rolle spielen, da damit auch nur kurzfristige – und damit aus Verhältnismäßigkeitsgründen nicht ahndungswürdige – Fehler des Fahrzeugführers berücksichtigt werden können. Ob im vorliegenden Fall eine solch ahndungswürdige Abstandsunterschreitung vorliegt, kann schon mangels Mitteilung einer eindeutigen Geschwindigkeit (141 oder 146 km/h), mangels Angabe einer vom Tatrichter zugrunde gelegten gemessenen Dauer der Unterschreitung und mangels eindeutiger Angaben zu vor oder hinter dem Fahrzeug des Betroffenen fahrender Fahrzeuge nicht beurteilt werden. Hinsichtlich der für eine Beurteilung notwendigen Feststellungen wird insb. auf OLG Hamm, DAR 2013, 656 verwiesen. Auf der Grundlage der bisher mitgeteilten Tatsachen (Messstrecke 100 m, Abstand 20m, möglicherweise vor unter hinter dem Fahrzeug das Fahrverhalten beeinflussende Fahrzeuge, unklare Geschwindigkeit) bestehen allerdings aus Sicht des Senats erhebliche Zweifel am Vorliegen einer vorwerfbaren Abstandsunterschreitung. Das wird jedoch letztlich der erneut zur Entscheidung berufene Tatrichter zu beurteilen haben.
Quellen: NStZ-RR 2015, 56 und BeckRS 2014, 22706
Sonderfall: Geschwindigkeitsmessung durch Hinterherfahren
KG Berlin, Beschluss vom 14.6.2024 – 3 ORbs 100/24 – 162 SsBs 18/24
Begründung eines hohen Toleranzabzugs bei Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit ungeeichtem Tacho
1. Wie hoch der bei einer Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit ungeeichtem Tachometer in Abzug zu bringende Sicherheitsabschlag ist, ist Tatfrage, die der Tatrichter in freier Beweiswürdigung zu beurteilen hat.
2. Will das Tatgericht von den der obergerichtlichen Rechtsprechung entsprechenden Toleranzwerten abweichen, bedarf es eingehender Darlegungen, warum dies ausnahmsweise geboten erscheint. Dies hat in einer auf die konkrete Beweisaufnahme gestützten Weise tatsachenbasiert zu geschehen.
Hintergrund:
Tatvorwurf – Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um 44 km/h
Amtsgerichtsurteil – Verurteilung wegen innerorts um 26 km/h, weil:
Der vom Amtsgericht zum Ausgleich von Messungenauigkeiten in Abzug gebrachte Wert von 30% (= 54 km/h) ist (auch) unter Zugrundelegung der Ausführungen der Beweiswürdigung nicht nachvollziehbar. Das Amtsgericht geht zunächst von der gesetzlich erlaubten Standardabweichung des Tachometers aus, die es mit „10 Prozent und weiteren 4 km/h“ beziffert. Dies wären, ausgehend von dem Bruttowert von 180 km/h, in der Summe 22 km/h. Zusätzliche 5% (9 km/h) bringt es dafür in Anschlag, dass die Messung zur Nachtzeit erfolgte, „was es abermals erschwert, den Abstand exakt einzuhalten“ (UA S. 3). Einen weiteren (Grund-) Wert schlägt das Tatgericht schließlich dafür auf, dass „eine Ungenauigkeit beim Einhalten des gleichbleibenden Abstands nicht ausgeschlossen“ werden könne (UA S. 3). Der Wert wird nicht bezeichnet, muss sich aber bei einem Gesamtabzug von 30% auf 12,8 % (= 23 km/h) belaufen. Das Amtsgericht bringt damit allein für den möglicherweise nicht gleichbleibenden Abstand einen Toleranzabzug von fast 18% in Anschlag.
Dem erteilt das KG eine Absage:
Dies ist nicht nachvollziehbar. Möchte das Tatgericht einen derart hohen Abschlag vornehmen, so hat es dies in einer auf die konkrete Beweisaufnahme gestützten Weise tatsachenbasiert zu begründen. Dies gilt umso mehr, als die Messung auf der AVUS erfolgte, die schnurgerade ist und damit als idealtypisch für eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren erscheint. Auch dieser Umstand stellt die Überlegung des Amtsgerichts, eine nicht auszuschließende „Ungenauigkeit beim Einhalten des gleichbleibenden Abstands“ begründe das Erfordernis größerer Toleranzen, in Frage und hätte einer auf die konkrete Beweisaufnahme bezogenen Auseinandersetzung bedurft.
Ergebnis: Zurückverweisung an das Amtsgericht
OLG Oldenburg, Beschl. vom 19.12.2022, 2 Ss (OWi) 183/22
Messung von Geschwindigkeiten durch Hinterherfahren zur Nachtzeit
Eine Geschwindigkeitsmessung anhand Fahrbahnkilometermarkierungen mittels geeichter Stoppuhr und Nachfahren, noch dazu zur Nachtzeit, erfordert genaue Feststellungen im Urteil zu den Sicht- und Beleuchtungsverhältnissen.
Quelle: Beck-Verlag / BeckRS 2022, 37933
Volltext → DIREKTLINK
AG Dortmund, Urteil vom 22.11.2022 – 729 OWi-265 Js 1807/22-117/22
Messung von Geschwindigkeiten durch Hinterherfahren zur Nachtzeit
Es ist bei einer Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren zur Nachtzeit über eine Strecke von 1000 m bei einem Verfolgungsabstand von 100 m auf einer BAB nicht plausibel, dass einerseits die Messstrecke, andrerseits der gleichbleibende Abstand der Fahrzeuge und schließlich eine durchgehende Tachometerbeobachtung durch zwei Polizisten ohne jegliche Kommunikation untereinander zuverlässig festgestellt werden kann. Bei einer durchgehenden Tachometerbeobachtung sowohl durch Beifahrer als auch Fahrer sind eine durchgehende Beobachtung des Fahrzeugs des Betroffenen, eine durchgehende Kontrolle des gleichbleibenden Abstandes des Polizeifahrzeuges und schließlich eine gleichzeitige Feststellung der Messstrecke nach menschlichem Ermessen nicht möglich, zumal zur Nachtzeit.
Zur Nachtzeit und ohne Umgebungsbeleuchtung kann ohne weitere Beleuchtungsquellen, die die Fahrzeugkonturen eines Fahrzeuges aufhellen, anerkanntermaßen nicht davon ausgegangen werden, dass Fahrzeugkonturen eines gemessenen 100 m entfernten Fahrzeugs erkennbar sind. Die bloße Erkennbarkeit von Rücklichtern reicht nicht aus, um zuverlässig eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren zur Nachtzeit durchführen zu können.
Quelle: Beck-Verlag / BeckRS 2022, 36454
LG Bielefeld vom 9.10.2020 – 08 Qs-401 Js 513/20-231/20
Hohe Anforderungen an Messung von Geschwindigkeiten durch Hinterherfahren
Aus den Gründen (auszugsweise):
An die Messung von Geschwindigkeiten durch ein Hinterherfahren sind hohe Voraussetzungen geknüpft.
Die Messstrecke muss bei Geschwindigkeiten bis 90 km/h bei mindestens 400 m liegen, bei höheren Geschwindigkeiten muss sie mindestens bei 500 m liegen.
Es ist ein annähernd gleicher Abstand zwischen beiden Fahrzeugen zu halten, welcher sich vergrößern, aber nicht verkleinern darf.
Wird eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren durchgeführt, so ist Tachometerwert ein Sicherheitsabschlag von 20 % abzuziehen.
Hier müsste jedoch berücksichtigt werden, dass die Fahrzeuge … nach einem Anhalten an der Lichtzeichenanlage erst wieder anfahren mussten, weshalb nicht die ganze Wegstrecke einzubeziehen wäre Selbst wenn die Teilstrecken lang genug für eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren gewesen wären, wäre zudem ein Sicherheitsabschlag vorzunehmen.
Schließlich kommt hinzu, dass letztlich nicht einmal geklärt ist, ob der im Polizeiwagen verbaute Tacho geeicht gewesen ist.
Anmerkung: Der Beschluss ist ergangen in einem Beschwerdeverfahren wegen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis in einem Strafverfahren wegen des Verdachts eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens nach § 316 d Abs. 1 Nr. 2 StGB.
BayObLG, Beschluss v. 18.06.2020 – 201 ObOWi 739/20
Nichtstandardisierte Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit Navigationsgerät im Privatfahrzeug
Bei einer Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mittels eines (ungeeichten) Navigationsgerätes in einem Privatfahrzeug sind zur Nachprüfung einer zugunsten des Betroffenen ausreichenden Messtoleranz tatrichterliche Feststellungen zur Art der Gerätes und dessen konkreter Funktionsweise für eine zuverlässige Ermittlung der Geschwindigkeit unabdingbar.
Quelle → OLG München Nachfahren mit Navi
OLG Köln, Beschluss vom 03.12.2021, 1 RBs 254/21
Bei der Geschwindigkeitsermittlung durch Nachfahren in einem Fahrzeug mit nicht justiertem Tachometer ist
regelmäßig ein erster Toleranzabzug von der abgelesenen Geschwindigkeit von 10% zuzüglich 4 km/h für mögliche Eigenfehler des Tachometers
sowie ein weiterer Toleranzabzug zwischen 6 und 12% der abgelesenen Geschwindigkeit erforderlich,
um weiteren Fehlerquellen, wie Ablesefehlern sowie solchen Fehlern, die aus Abstandsveränderungen und/oder der Beschaffenheit des Fahrzeugs resultierten zu begegnen (teilweise Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung).
Quelle → OLG Köln / Beschluss 03.12.2021 / 1 RBs 254/21
Sonderfall: Rotlichtmessung durch Stoppuhr und “Zählen”
OLG Dresden, Beschluss vom 25.5.2023 – ORbs 21 SsBs 54/23
Die “Rotlicht”-Messung nicht schon deshalb unverwertbar, weil die verwendete Stoppuhr des privaten Mobiltelefons – offensichtlich – nicht geeicht war.
Die Eichpflicht garantiert eine besondere qualitative Sicherheit der
Messung. Diesem Zweck wird aber auch dann entsprochen, wenn die
qualitätsmäßigen Bedenken an der Messqualität dadurch ausgeräumt werden, dass zum Ausgleich möglicher Messungenauigkeiten und sonstiger
Fehlerquellen (z.B. auch Reaktionsverzögerungen beim Bedienen des
Messgeräts) bestimmte Sicherheitsabschläge vorgenommen werden.
In den Entscheidungsgründen finden sich dann auch noch Hinweise zu möglichen Sicherheitsabschlägen, die das Amtsgericht hier aber nicht erörtert hat, und Fehlern bei der Urteilsabfassung.
Das OLG hat das Verfahren zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Amtsgericht zurückverwiesen.
BayObLG, Beschluss vom 19.08.2019 – 201 ObOWi 238/19
Rotlichtverstoß nach “Messung” durch Stoppuhr eines Mobiltelefons
Die (polizeiliche) Zeitmessung der Dauer der Rotlichtphase anlässlich eines dem Betroffenen zur Last liegenden sog. qualifizierten Rotlichtverstoßes ist nicht deshalb unverwertbar, weil sie mit Hilfe einer ungeeichten Stoppuhr eines Mobiltelefons (Smartphone) erfolgt ist.
Wie in den Fällen der Geschwindigkeitsmessung mit einem ungeeichten Tachometer ist zum sicheren Ausgleich etwaiger Messungenauigkeiten und sonstiger Fehlerquellen vom so gemessenen Zeitwert ein bestimmter Toleranzwert in Abzug zu bringen, welcher vom Tatrichter im Urteil unter Bezeichnung der möglichen geräteeigenen Fehler, der konkret eingesetzten Uhr und etwaiger externer Fehlerquellen zu berücksichtigen ist.
Erfolgt die Zeitmessung mit einer ungeeichten Stoppuhr, ist die Berücksichtigung eines über dem für etwaige Gangungenauigkeiten (Verkehrsfehlergrenze) geeichter Stoppuhren auch nach dem Inkrafttreten des MessEG vom 31.08.2015 sowie der MessEV vom 11.12.2014 anerkannten Toleranzabzugs von 0,3 Sekunden liegenden Sicherheitsabzugs erforderlich.
KG Berlin, Beschluss vom 01.07.2021, 3 Ws (B) 167/21 – 122 Ss 79/21
Urteilsanforderungen bei ohne technische Hilfsmittel festgestelltem „qualifiziertem“ Rotlichtverstoß
1. Wegen der erheblichen Auswirkungen im Rechtsfolgenausspruch muss insbesondere die Feststellung, dass das Rotlicht im Zeitpunkt des Überfahrens der Haltlinie länger als eine Sekunde andauerte, vom Tatrichter nachvollziehbar aus dem Beweisergebnis hergeleitet werden.
2. Damit die Feststellungen eines von einem Zeugen beobachteten sog. qualifizierten Rotlichtverstoßes eine tragfähige Grundlage für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht bilden, ist es erforderlich, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen die von dem Zeugen angewandte Messmethode darstellt und sie hinsichtlich ihrer Beweiskraft bewertet.
3. Auch für die Bestimmung der Rotlichtdauer gilt der Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung, weshalb es auch hierfür keinen Numerus Clausus möglicher Beweismittel gibt.
4. Soll durch Zeugenbeweis und ohne technische Hilfsmittel ein qualifizierter Rotlichtverstoß bewiesen werden, so ist eine kritische Würdigung des Beweiswertes geboten.
→ Hierzu aus den Beschlussgründen → Für die Feststellung eines „qualifizierten“ Rotlichtverstoßes bedarf es also nicht zwingend einer geeichten Uhr oder gar einer fest installierten, zugelassenen und geeichten Verkehrsüberwachungsanlage. Auch das sog. Sekundenzählen durch gezielt überwachende Polizeibeamte wurde – insbesondere in etwas älteren Entscheidungen – als ggf. zuverlässiges Beweismittel anerkannt
5. Die Dauer der Rotlichtzeit ist eine sog. doppelrelevante Tatsache; sie betrifft sowohl den Schuld- als auch den Rechtsfolgenausspruch (Anschluss KG, Beschluss vom 12. April 2017 – 3 Ws (B) 31/17, NZV 2017, 340).
KG Berlin, Beschluss vom 24.06.2021 – 3 Ws (B) 131/21 – 122 Ss 60/21
(und noch einmal) Urteilsanforderungen bei ohne technische Hilfsmittel festgestelltem Rotlichtverstoß / Vorsatz?
Die Annahme, der Betroffene habe einen Rotlichtverstoß begangen, erfordert die gerichtliche Feststellung, dass er die Haltlinie der für ihn geltenden und rotes Licht abstrahlenden Wechsellichtzeichenanlage überfahren hat.
Ob er dabei vorsätzlich gehandelt hat, bestimmt sich nach den allgemeinen Grundsätzen gemäß § 10 OWiG. Für die Feststellung des bedingten Vorsatzes muss das Tatgericht darlegen, aufgrund welcher Umstände der Betroffene es mindestens für möglich hielt und billigend in Kauf nahm, die Haltlinie der für ihn geltenden Lichtzeichenanlage bei Rot zu überfahren.
Feststellungen dazu, dass der Betroffene die Wechsellichtanlage wahrgenommen hat, bedarf es im Regelfall nicht. Denn der Tatrichter kann davon ausgehen, dass ein Fahrer grundsätzlich die gut sichtbare Ampelanlage mit der in § 37 Abs. 2 Satz 1 StVO bestimmten Farbfolge im Blick hat (vergleichbar mit den ordnungsgemäß aufgestellten Vorschriftszeichen, dazu BGHSt 43, 242) und von einer bereits gelbes Licht abstrahlenden Lichtzeichenanlage nicht überrascht wird, es sei denn, die Hauptverhandlung ergibt konkrete gegenteilige Anhaltspunkte.
Quelle: Beck-Verlag / BeckRS 2021, 22654