Wir freuen uns, dass es gelungen ist, in einem Verfahren vor dem hiesigen Amtsgericht Rostock die Bagatellschadengrenze, ab der ein volles Sachverständigengutachten nach einem Haftpflichtschaden zu erstatten ist, für die “Region Rostock” zu bestätigen.
Das Amtsgericht Rostock hat bei einem
kalkulierten Schaden von 822,42 EUR (brutto)
die Erstattung der vollen Gutacherkosten ausgeurteilt und dabei trotz immer mal wieder aufbäumender Gegenmeinungen die vom BGH gezogene “Grenze” von seinerzeit 727,37 EUR für nicht antastbar erachtet.
Amtsgericht Rostock, Urteil vom 25.04.2017, 43 C 1/17
(Instandsetzungskosten lagen bei 822,42 EUR brutto)
Der Geschädigte ist grundsätzlich berechtigt, einen qualifizierten Gutachter seiner Wahl mit der Erstellung des Schadensgutachtens zu beauftragen, kann als erforderlichen Herstellungsaufwand allerdings nur die Kosten erstattet verlangen, die vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des Geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und notwendig erscheinen.
Nicht ersatzfähig sind die Kosten eines Sachverständigengutachtens danach, wenn durch einen augenscheinlich geringfügigen Unfall nur ein oberflächlicher Sachschaden entstanden ist (vgl. LG Saarbrücken, 19. 10. 2012, 13 S 38/12).
Das Gebot zu wirtschaftlich vernünftiger Schadensbehebung verlangt vom Geschädigten nicht, zugunsten des Schädigers zu sparen oder sich in jedem Fall so zu verhalten, als ob er den Schaden selbst zu tragen hätte. Erforderlich ist eine subjektbezogene Schadensbetrachtung (OLG München, Urteil vom 26. Februar 2016 – 10 U 579/15-, juris).
Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 30.11.2004 (VI ZR 365/03) den Schadensbetrag von 727,37 Euro so beurteilt, dass die Bagatellgrenze noch nicht unterschritten sei. Jüngst hat das Landgericht Arnsberg (Urteil vom 07.12.2016, Az.: I-3 S 54/16) die Grenze bei 1.000,00 Euro netto mit Blick auf die allgemeine Preissteigerung und in Anlehnung an die strafgerichtliche Rechtsprechung zu § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB gezogen. Das Landgericht Freiburg (Urteil vom 24.11.2016; Az.: 3 S 145/16) hält einen Ansatz von 750,00 Euro für gerechtfertigt.
Nach vorstehenden Grundsätzen ist vorliegend die sog. Bagatellgrenze überschritten.
Der Sachverständige hat einen Schadensbeseitigungsaufwand von 822,42 Euro brutto insbesondere für Lackier- und Nebenarbeiten kalkuliert. Damit ist die Bagatellgrenze nach Ansicht des Gerichtes auch betragsmäßig überschritten, wobei hierzu nicht auf den Netto-Wiederherstellungsbetrag abzustellen ist. Maßgeblich ist der tatsächliche Erstattungsaufwand, dem sich der Schädiger im Falle konkreter Schadenabrechnung gegenübersieht. Denn es liegt grundsätzlich allein in der Hand des Geschädigten, ob konkret oder fiktiv abgerechnet werden soll, so dass sich der Versicherer zunächst dem Bruttobetrag als Erstattungsbetrag gegenübersieht. Erst nach Ausübung des Wahlrechts des Geschädigten wird dessen Erstattungsanspruch um den Umsatzsteueranteil geschmälert. Es wäre unbillig, von dieser Entscheidungsmöglichkeit die Frage der Erstattungsfähigkeit von Sachverständigenkosten abhängig zu machen.
Im Übrigen vermag allein das Argument der allgemeinen Preissteigerung eine Anhebung der Bagatellgrenze, wie sie der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 30.11.2004 mit 727,37 Euro gezogen hat, nicht zu rechtfertigen. Bei der gebotenen subjektbezogenen Schadenbetrachtung wird man die jeweilige Einkommenssituation des Geschädigten nicht außer Acht lassen dürfen. Im Verhältnis zu dem von der Klägerin erzielten monatlichen Nettoeinkommen von ca. 1.100,00 Euro stellt sich ein Schaden von 822,42 Euro als erheblich dar.
Mit Blick auf die uneinheitliche Rechtsprechung zur sog. Bagatellgrenze war die Berufung gem. § 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zuzulassen.
Quelle: AG Rostock, Urteil vom 25.04.2017, 43 C 1/17
AG Ratzeburg, Urteil vom 20.12.2021, 17 C 95/21 (600 EUR)
… zieht die Wertgrenze bei schon 600 EUR / Kriterien: ZPO / “Smart-Repair” or not? / Beilackierung or not?
Die Höhe der angenommenen und später dann in etwa so angefallenen Reparaturkosten überschreiten mit etwas über 1.000,00 € den Betrag, bis zu dem berechtigterweise von einem Bagatellschaden ausgegangen werden kann, bei dem gegebenenfalls kein Anspruch auf Erstattung von Gutachterkosten besteht. Eine feste Wertgrenze existiert insoweit zwar nicht. Es bietet sich jedoch an, sich an der Wertgrenze des § 495 a ZPO und des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO von 600,00 € zu orientieren. Zwar ist die Materie, die diese Normen regeln, eine gänzlich andere als die, um die es vorliegend geht. Jedoch hat der Gesetzgeber in den genannten Normen deutlich gemacht, bis zu welchem Wert er eine gewisse Beschränkung sonst bestehender Rechte zu akzeptieren bereit ist. Auf die Frage, ob eine Unterschreitung einer Bagatellgrenze erkennbar gewesen wäre, kam es deshalb schon nicht mehr an.
Zudem war der Schadenumfang nicht völlig klar. Zwar musste nicht mit weiteren verborgenen Schäden gerechnet werden. Stellt sich jedoch wie hier die Frage nach der Möglichkeit einer sogenannten „Smart-Reparatur“, nach der Notwendigkeit einer Beilackierung weiterer Fahrzeugteile usw., darf der Geschädigte die Einholung eines Schadengutachtens als erforderlich erachten.
OLG Hamm, Urteil vom 28.06.2022, I-7 U 45/21
(Instandsetzungskosten lagen bei 1.018,43 EUR brutto)
Nach diesen Grundsätzen liegt ein Bagatellschaden, welcher die Einholung eines Sachverständigengutachtens als nicht erforderlich erscheinen lassen würde, nicht vor. Auf das Unfallgeschehen sind – wie ausgeführt – Kontaktspuren am lackierten Heckstoßfänger im Bereich des linken Rückstrahlers sowie das Lösen der Kantenschutzleiste am Klägerfahrzeug zurückzuführen, deren Instandsetzung Brutto-Reparaturkosten in Höhe von 1.018,43 EUR erforderlich machte, weshalb bereits betragsmäßig kein Bagatellschaden ersichtlich ist (vgl. VI ZR 365/03, Urt. v. 30.11.2004 – NJW 2005, 356 [unter II. 5 c], wonach bei Überschreitung einer Schadenshöhe von 1.400,00 DM / 715,81 EUR kein Bagatellschaden vorliegt).
Hinzu kommt, dass zum einen für die Lackierung eines Stoßfängers auch nach Kenntnis eines Laien erhebliche Kosten anfallen können und zum anderen bei entsprechenden Schäden aus Sicht eines Laien nicht ausgeschlossen werden kann, dass darüber hinaus durch den Unfall weitere – unter der Stoßstange verborgene – Schäden entstanden sind. Hiernach durfte der Kläger die Einholung eines Sachverständigengutachtens für geboten erachten.
Quelle: Beck-Verlag / BeckRS 2022, 30058 / beck-online
Rechtsprechung – Übersicht (Stand Juni 2024)
AG Oberndorf, Urteil vom 26.08.2023, 10 C 121723 (ab 1.000 EUR netto und bei geringfügiger Unterschreitung Einzelfallprüfung, ob die Unterschreitung für den Geschädigten subjektiv erkennbar war)
AG Siegburg, Urteil vom 28.12.2023, 121 C 96/23 (1.100 EUR = kein Bagatellschaden mehr ab einer Schadenhöhe von ca. 800,00 € und nicht
auszuschließenden weiteren Schäden nach einem Auffahrunfall
AG Passau, Urteil vom 11.04.2023, 15 C 872/22 (993 EUR und der Hinweis: “Da sich ein starre Handhabung der Grenze verbietet und es auf die Erkenntnismöglichkeiten der Geschädigten nach dem Unfall ankommt, war die Beauftragung eines Sachverständigen erforderlich, um das tatsächliche Ausmaß des Unfallschadens sicher feststellen zu können.“
AG Braunschweig, Urteil vom 12.01.2022, 120 C 1071/21 (700 EUR)
AG Lübeck, Urteil vom 27.10.2021, 29 C 1246/21 (811,21 EUR / “im Bereich von 800 bis 1.000 €”)
AG Wesel vom 30.01.2015 / 26 C 414/14 (bei 700 Euro / auf das Schadensbild kommt es nicht an)
AG Gießen, Urteil vom 02.09.2014, AZ: 43 C 272/1 (700 Euro)
AG Essen, Urteil vom 13.01.2015, AZ: 11 C 361/14 (750 Euro)
AG Lichtenfels, Urteil vom 1305.2014, AZ: 1 C 139/14 (700 Euro)
AG Eisleben, Urteil vom 15.07.2016, AZ: 21 C 64/16 (781,95 Euro)
AG Koblenz, Urteil vom 06.10.2015, AZ: 411 C 1427/15 (816,67 Euro)
AG Hamburg, Urteil vom 30.03.2016, 33 a 336/15 (750,00 EUR)
LG Freiburg, Urteil vom 24.11.2016 – 3 S 145/16 = (750 EUR)
AG Staufen, Urteil vom 31.07.2015, 2 C 41/15 (830,50 EUR)
AG Münster, Urteil vom 14.06.2016, 28 C 821/16 (745,57 EUR netto = 887,23 EUR brutto)
AG Königs Wusterhausen, Urteil vom 23.01.2015, 4 C 1082/14 (600,00 EUR)
AG Nürnberg, Urteil vom 01.09.2016, AZ: 15 C 5843/16 (hier 1029,95 Euro)
AG Nürnberg, Urteil vom 06.06.2019, 18 C 2692/19 (zwischen 750 und 1.000 EUR, aber keine feste Grenze)
OLG München, Urteil vom 26.02.2016 – 10 U 579/15 (750 EUR)
AG Augsburg, Urteil vom 14.04.2016 – 16 C 1206/16 (700 EUR bzw. 651,78 EUR)
AG Berlin-Mitte, Urteil vom 19.11.2014 – 112 C 3053/14 (“weniger als 1.000 EUR”)
AG Gummersbach, Urteil vom 01.02.2018, 16 C 381/17 (897 EUR)
AG Wolfenbüttel, Urteil vom 08.05.2018, 17 C 270/17 (zwischen 800 bis 1.000 EUR, aber trotz 701,43 EUR brutto bei Anstoß auf die starre Anhängerkupplung sind die Gutachterkosten zu erstatten, da ein Bagatellfall auch bei Unterschreiten der Bagatellgrenze nur anzunehmen, wenn der Schaden für den Geschädigten als Bagatelle erkennbar war.)
Bruttobetrag oder doch Nettobetrag als Ausgangsbasis?
AG Rostock, Urteil vom 25.04.2017, 43 C 1/17:
… wobei hierzu nicht auf den Netto-Wiederherstellungsbetrag abzustellen ist.
AG Köln, Urteil vom 03.09.2010, 272 C 115/10:
Die Kosten für die Reparatur sind mit 901,04 € brutto einvernehmlich angesetzt. Dies ist der entscheidende Wert, und nicht der Nettowert von 757,18 €, auf welchen sich die Beklagte beruft. Im Übrigen liegt auch dieser – wenn auch knapp – über der anerkannten Bagatellgrenze.
Es ist im übrigen auch dann vom Bruttobetrag auszugehen, wenn der Geschädigte zum Vorsteuerabzug berechtigt ist.
AG Heidenheim, Urteil vom 20.04.2005, 7 C 204/05
Nachdem bei den Reparaturkosten für die Beachtung, ob es sich um einen Bagatellschaden handelt, aber die Mehrwertsteuer einzuberechnen ist, liegen die hier streitgegenständlichen Reparaturkosten mit 796,37 EUR deutlich über der Bagatellschadengrenze …