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LAG MV, Urteil vom 13.07.2023, 5 Sa 1/23
Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft.
Eine zu Beginn der Erkrankung angetretene rund 10-stündige Bahnfahrt eines als Chefarzt beschäftigten Arbeitnehmers zum Familienwohnsitz, um dort die Hausärztin aufzusuchen, lässt ohne Hinzutreten weiterer Umstände die attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen.
BAG, Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22
Offene Videoüberwachung – Verwertungsverbot
In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.
Quelle → PRESSEMITTEILUNG DES BAG
Hinweis: Das BAG hat dieses und drei ähnlich gelagerte Verfahren auf die Revision der Beklagten ebenfalls an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
BAG, Urteil vom 20.06.2023 – 1 AZR 265/22
Keine Erstattung einer Personalvermittlungsprovision durch den Arbeitnehmer
Eine arbeitsvertragliche Regelung, nach der der Arbeitnehmer verpflichtet ist, dem Arbeitgeber eine von ihm für das Zustandekommen des Arbeitsvertrags an einen Dritten gezahlte Vermittlungsprovision zu erstatten, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis vor Ablauf einer bestimmten Frist beendet, ist nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam.
LArbG Nürnberg, Urteil v. 15.06.2023 – 5 Sa 1/23
Kündigungsschreiben – Zugang – übliche Postzustellzeiten – Auslieferungsbeleg
Der ordnungsgemäße Auslieferungsbeleg mit der Unterschrift eines Postbediensteten erbringt den Beweis des ersten Anscheins für den Zugang des Schreibens zum Zeitpunkt der üblichen Postzustellzeiten.
Quelle → VOLLTEXT unter diesem LINK
LAG Düsseldorf, Urteil vom 26.04.2023 – 12 Sa 18/23
Heimliche Detektivüberwachung – immaterieller Schadensersatz gemäß Art. 82 DSGVO
1. Alleine die rechtswidrige und heimliche Überwachung des Arbeitnehmers durch eine von der Arbeitgeberin beauftragte Detektei, bei der zudem Bilder des Arbeitnehmers in verschiedenen Lebenssituationen zur Bewertung seines Gesundheitszustands gefertigt werden, begründet einen immateriellen Schaden i.S.v. Art. 82 Abs. 1 DSGVO.
2. Zur Bestimmung der Höhe des Schadensersatzanspruchs für den immateriellen Schaden aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO in einem solchen Fall.
LAG MV, Urteil vom 25.04.2023 – 5 Sa 26/22
Arbeitsvertragliche Ausschlussfrist / Rückzahlung von Annahmeverzugslohn wegen erzielten Zwischenverdienstes
Eine arbeitsvertragliche Ausschlussfrist, nach der Ansprüche verwirken, sofern sie dem Arbeitgeber gegenüber nicht fristgerecht geltend gemacht werden, erfasst dem Wortlaut nach nur Ansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, nicht solche des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer. Eine solche Ausschlussfrist steht einem Anspruch des Arbeitgebers auf Rückzahlung von Annahmeverzugslohn wegen erzielten Zwischenverdienstes nicht entgegen.
LAG Hamburg, Urteil vom 06.04.2023 – 8 Sa 51/22
Böswilliges Unterlassen anderweitigen Erwerbs – Verzugslohn
1. Ein böswilliges Unterlassen eines anderweitigen Verdienstes kommt nur in Betracht, wenn es mindestens eine konkrete Erwerbsmöglichkeit gab, die dem Arbeitnehmer in dem Zeitraum bekannt war, für den er Verzugslohn verlangt.
2. Der Verweis auf einen für den Arbeitnehmer günstigen Arbeitsmarkt genügt nicht, da es sich nicht um eine feststellungsfähige Tatsache handelt.
3. Der Behauptung des Arbeitgebers, bei bestimmten Arbeitgebern seien für den Arbeitnehmer geeignete Stellen zu besetzen gewesen, genügt nur, wenn festgestellt werden kann, dass dem Arbeitnehmer diese offenen Stellen im fraglichen Zeitraum bekannt gewesen sind.
4. Der Vortrag mindestens einer konkreten Beschäftigungsmöglichkeit ist dem Arbeitgeber auch zumutbar. Er kann dem Arbeitnehmer eine zumutbare Prozessbeschäftigung im eigenen Unternehmen anbieten oder vortragen, er habe den Arbeitnehmer auf konkrete Stellenangebote in anderen Unternehmen hingewiesen.
5. Auf einen entsprechenden Sachvortrag des Arbeitgebers hat sich der Arbeitnehmer gemäß § 138 II ZPO zu erklären, welche Aktivitäten er zur Erlangung der Beschäftigungsmöglichkeit unternommen hat oder weshalb ihm solche Bemühungen oder die Annahme eines Angebots nicht zumutbar gewesen ist.
6. Das durch § 35 SGB I geschützte Sozialgeheimnis, aufgrund dessen der Arbeitgeber von der Bundesagentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter keine Auskunft erlangen kann, welche Vermittlungsvorschläge einem Arbeitnehmer übermittelt worden sind (vgl. ), kann vom Arbeitgeber nicht dadurch umgangen werden, dass er für seine Behauptung, der Arbeitnehmer habe weitere Vermittlungsvorschläge erhalten, Sachbearbeiter der Behörde als Zeugen benennt. v. 27.05.2020 – 5 AZR 387/19 – Tz 41
BAG, Urteil vom 29.03.2023 – 5 AZR 255/22
Fristlose Kündigung und Annahmeverzug
Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos, weil er meint, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei ihm nicht zuzumuten, bietet aber gleichzeitig dem Arbeitnehmer „zur Vermeidung von Annahmeverzug“ die Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen während des Kündigungsschutzprozesses an, verhält er sich widersprüchlich. In einem solchen Fall spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass das Beschäftigungsangebot nicht ernst gemeint ist. Diese Vermutung kann durch die Begründung der Kündigung zur Gewissheit oder durch entsprechende Darlegungen des Arbeitsgebers entkräftet werden.
LArbG Niedersachsen, Urt. v. 29.03.2023, 2 Sa 313/22
Die private Nutzung einer Tankkarte entgegen den Regelungen einer Dienstwagenrichtlinie kann eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen.
LAG MV, Urteil vom 28.03.2023, 5 Sa 128/22
Verdachtskündigung, Abmahnung, Arbeitszeitbetrug, Arbeitszeitmanipulation, Gleitzeit, Arbeitszeiterfassung
Der dringende Verdacht einer fehlerhaften Arbeitszeiterfassung kann eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn sich ein Arbeitnehmer aller Wahrscheinlichkeit nach von zu Hause aus im Zeiterfassungssystem eingebucht hat, die Arbeit aber erst später im Dienstgebäude aufnimmt.
LAG Niedersachsen, Urteil vom 08.03.2023 – 8 Sa 859/22
Erschütterung des Beweiswertes von AU-Bescheinigungen
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann grds. auch dadurch erschüttert werden, dass der Arbeitnehmer sich im Falle des Erhalts einer arbeitgeberseitigen Kündigung unmittelbar zeitlich nachfolgend – “postwendend” – krank meldet bzw. eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreicht. Das gilt insbesondere dann, wenn lückenlos der gesamte Zeitraum der Kündigungsfrist – auch durch mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – abgedeckt wird.
Meldet sich zunächst der Arbeitnehmer krank und erhält er erst sodann eine arbeitgeberseitige Kündigung, fehlt es an dem für die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung notwendigen Kausalzusammenhang.
Allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben ist, am unmittelbar darauffolgenden Tag gesundet und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt, erschüttert in der Regel ohne Hinzutreten weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht.
Quelle → DIREKTLINK zum VOLLTEXT
LAG Niedersachsen, Urteil vom 20.02.2023, 1 Sa 702/22
Die Berechnung des Mutterschutzlohns nach § 18 Satz 1 MuSchG ist nach § 18 Satz 2 MuSchG grundsätzlich auf das durchschnittliche Arbeitsentgelt der letzten drei abgerechneten Kalendermonaten vor dem Eintritt der Schwangerschaft abzustellen. Dies gilt auch dann, wenn ein Teil der Vergütung variabel ausgestaltet ist und auf provisionspflichtigen Geschäften beruht.
Provisionen, die erst während eines ärztlichen Beschäftigungsverbot nach § 16 MuSchG fällig werden, kommen nur dann und nur in dem Umfang zur Auszahlung, wie sie den nach § 18 Satz 2 MuSchG errechneten Mutterschutzlohn übersteigen.
BAG, Urteil vom 20.12.2022 – 9 AZR 266/20
Verjährung von Urlaubsansprüchen
Der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub unterliegt der gesetzlichen Verjährung.
Allerdings beginnt die dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
Quelle → PRESSEMITTEILUNG BAG vom 20.12.2022
ArbG Siegburg, Urteil vom 16.12.2022, 5 Ca 1200/22
“Krankfeiern” auf White Night Ibiza Party rechtfertigt fristlose Kündigung
Meldet sich eine Arbeitnehmerin bei ihrem Arbeitgeber für 2 Tage krank und nimmt an einer “Wild Night Ibiza Party” teil, ist von einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit auszugehen. Eine fristlose Kündigung kann dann gerechtfertigt sein.
Quelle → Pressemitteilung Justiz NRW
BAG, Urteil vom 15.12.2022 – 2 AZR 162/22
Zustimmung des Integrationsamts kein Ersatz für Durchführung eines (unterlassenen) bEM
Die Zustimmung des Integrationsamts zu einer krankheitsbedingten Kündigung begründet nicht die Vermutung, dass ein (unterbliebenes) betriebliches Eingliederungsmanagement die Kündigung nicht hätte verhindern können.
LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 15.12.2022, 10 Sa 783/22
Annahmeverzug des Arbeitgebers – zumutbare Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber – böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes
Das Unterlassen der Annahme einer zumutbaren Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber stellt nicht zugleich ein böswilliges Unterlassen eines anderweitigen Verdienstes dar.
Ein Arbeitnehmer unterlässt böswillig anderweitigen Verdienst, wenn ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) unter Beachtung des Grundrechts auf freie Arbeitsplatzwahl nach Art 12 GG zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert.
Die tarifliche Ausschlussfrist regelt nur, bis wann ein Anspruch geltend gemacht werden muss. Bei der Ausschlussfrist handelt es sich nicht um eine Sperrfrist, die eine Geltendmachung vor Fälligkeit verbietet.
LAG Nürnberg, Urteil vom 13.12.2022, 7 Sa 168/22
Benachteiligung – Bewerbung – Geschlecht – Entschädigung
Eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechtes liegt vor, wenn einem männlichen Bewerber um eine Stelle abgesagt wird mit der Begründung, “unsere sehr kleinen, filigranen Teile sind eher etwas für flinke Frauenhände”.
LAG Hamm, Urteil vom 09.12.2022, 13 Sa 754/22
1. Die Formulierung, dass ein Arbeitnehmer “bei einem 35-jährigen Dienstjubiläum” eine Jubiläumszuwendung erhält, setzt lediglich die Vollendung einer 35-jährigen Beschäftigungszeit voraus und nicht, dass das Arbeitsverhältnis über diesen Zeitpunkt hinaus auch noch am Jubiläumstag fortbesteht.
2. Soll der Arbeitnehmer „bei Dienstjubiläum“ einen Jubiläumszuwendung erhalten, ist damit lediglich die Fälligkeit des bei Vollendung der Beschäftigungszeit entstandenen Anspruchs geregelt.
Quelle: BeckRS 2022, 41668, beck-online
LAG Nürnberg, Urteil vom 29.11.2022, 1 Sa 250/22
Auflösungsantrag des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozess
1. Ohne hinreichende Verdachtsmomente ist der Arbeitgeber nicht befugt, den arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer durch ein Loch in der Hecke auf seinem Privatgrundstück beobachten und filmen zu lassen. Die beobachteten Tatsachen unterliegen im Prozess einem Verwertungsverbot.
2. Soweit sich aus dem Vortrag des Arbeitnehmers im Prozess eine Pflichtverletzung ergibt, kann dies verwertet werden.
3. Die eingeräumten Tätigkeiten beim Bau der Gartenmauer rechtfertigen eine außerordentliche Kündigung wegen genesungswidrigen Verhaltens ohne Abmahnung nicht.
4. Die gegen den Arbeitnehmer zum Ausdruck kommende, durch geänderte und schlechte Arbeitsbedingungen bei der Erfüllung des Weiterbeschäftigungsanspruchs gekennzeichnete feindselige Haltung des Arbeitgebers kann die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag des Arbeitnehmers rechtfertigen.
Quelle → LEITSATZ und VOLLTEXT
BAG, Urteil vom 08.12.2022 – 6 AZR 31/22
Berücksichtigung der Rentennähe bei der sozialen Auswahl
Bei einer betriebsbedingten Kündigung hat die Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers anhand der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO genannten Kriterien zu erfolgen. Bei der Gewichtung des Lebensalters kann hierbei zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das Gleiche gilt, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann. Lediglich eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen darf insoweit nicht berücksichtigt werden.
BAG, Urteil vom 24.11.2022, 2 AZR 11/22
Schwangerschaft – Beginn des Kündigungsverbots
Bundesfinanzhof, Urteil vom 23.11.2022, VI R 50/20
Steuerfreiheit der Vorteile des Arbeitnehmers aus der Nutzung eines betrieblichen Telekommunikationsgeräts
Die Erstattung von Telefonkosten für einen vom Arbeitnehmer abgeschlossenen Mobilfunkvertrag durch den Arbeitgeber ist auch dann nach § 3 Nr. 45 EStG steuerfrei, wenn der Arbeitgeber das Mobiltelefon, durch dessen Nutzung die Telefonkosten entstanden sind, von dem Arbeitnehmer zu einem niedrigen, auch unter dem Marktwert liegenden Preis erworben hat und er das Mobiltelefon dem Arbeitnehmer unmittelbar danach wieder zur privaten Nutzung überlässt.
LAG MV, Urteil vom 16.11.2022 – 3 Sa 204/21
Arbeitnehmerhaftung für Schäden an einem überlassenen Lkw und die Beweislast
Im Falle der Schadensersatzklage eines Arbeitgebers gegen einen Arbeitnehmer trägt der Arbeitgeber gemäß § 619a BGB die Darlegungs- und Beweislast auch im Hinblick auf die Schadenshöhe.
LAG Sachsen-Anhalt, Beschluss, 13.10.2022, 2 TaBV 1/22
Vorlage von Bewerbungsunterlagen an Betriebsrat – digitales Einsichtsrecht – vorläufige personelle Maßnahme
Leitsatz des Gerichts
Die Vorlage der erforderlichen Bewerbungsunterlagen im Sinne von § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG muss nicht in Papierform, sondern kann auch in der Weise erfolgen, dass die Betriebsratsmitglieder, denen Dienst-Laptops zur Verfügung stehen, im Zuge der Information über eine beabsichtigte Einstellung umfassende Einsichtsmöglichkeiten in ein Bewerbermanagement-Tool erhalten.
Orientierungssätze des Gerichts
1. Es kann keinen Unterschied mehr machen, ob dem Betriebsrat sämtliche Unterlagen in Papierform vorgelegt bzw. überlassen werden oder ob die Betriebsratsmitglieder durch “Vorlage” von Laptops in die Lage versetzt werden, sich die entsprechenden Kenntnisse zu verschaffen.
2. Der Auffassung, wonach der Arbeitgeber auch bei der EDV-mäßigen Erfassung aller relevanten Unterlagen und Daten weiterhin ausnahmslos verpflichtet sei, sämtliche (Bewerbungs-) Unterlagen auszudrucken und dem Betriebsrat in Papierform vorzulegen, ist nicht zu folgen.
3. Wenn gewährleistet ist, dass dem Betriebsrat ein uneingeschränktes Zugriffsrecht auf alle digitalisierten Bewerbungsunterlagen und die entsprechend eingepflegten Daten ermöglicht wird, spricht nichts dagegen, den Anspruch des Betriebsrats auf Vorlage von Unterlagen i.S.v. § 99 Abs 1 BetrVG auch durch die Einräumung eines Einsichtsrechts des Betriebsrats in die im System hinterlegten Unterlagen zu ermöglichen.
4. Will der Arbeitgeber die vorläufige Maßnahme erst durchführen, nachdem er bereits nach § 99 Abs 4 BetrVG das Arbeitsgericht angerufen hatte oder gar schon eine erstinstanzliche gerichtliche Entscheidung vorliegt, ist nach Sinn und Zweck des Gebots der doppelten Antragstellung ausnahmsweise auch ein (nachträglicher) isolierter Antrag auf Feststellung der Dringlichkeit der vorläufigen personellen Maßnahme zulässig.
5. Wenn das Arbeitsgericht im Beschlussverfahren die fehlende Zustimmung des Betriebsrats (wie vorliegend) ersetzt hat, kann der Feststellungsantrag des Arbeitgebers nur dann abgewiesen werden, wenn die Maßnahme offensichtlich nicht dringend war.
Hinweis (Stand 24.02.2023): Rechtsbeschwerde wurde eingelegt unter dem Aktenzeichen 1 ABR 28/22
LAG Schleswig-Holstein vom 27.09.2022, 1 Sa 39 öD/22
Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte – Annahmeverzug – Arbeitszeitkonto – Zugang einer Dienstplanänderung – Direktionsrecht – Freizeit – Recht auf Unerreichbarkeit – Rettungsdienst
1. Mit der Änderung des Dienstplans eines Mitarbeiters übt der Arbeitgeber diesem gegenüber sein Direktionsrecht aus. Die Änderung muss dem Mitarbeiter zugehen, da es sich bei der Ausübung des Direktionsrechts um eine empfangsbedürftige Gestaltungserklärung handelt.
2. Ein Mitarbeiter ist nicht verpflichtet, sich in seiner Freizeit zu erkundigen, ob sein Dienstplan geändert worden ist. Er ist auch nicht verpflichtet, eine Mitteilung des Arbeitgebers – etwa per Telefon – entgegenzunehmen oder eine SMS zu lesen. Nimmt er eine Information über eine Dienstplanänderung nicht zur Kenntnis, geht ihm diese erst bei Dienstbeginn zu.
3. Ob der Mitarbeiter verpflichtet ist, eine Dienstplanänderung zu berücksichtigen und den geänderten Dienst anzutreten, wenn ihn die Mitteilung über die Dienstplanänderung tatsächlich erreicht, bedurfte hier keiner Entscheidung.
LAG Niedersachsen, Urteil vom 12.07.2022, 10 Sa 1217/21
Abrücken des Arbeitgebers von der zunächst erteilten sogenannten Dankes-, Bedauerns- und Wunschformel im geänderten Arbeitszeugnis
1. Ein Arbeitnehmer kann unmittelbar aus § 109 Abs. 1 Satz 3 GewO keinen Anspruch auf eine Dankes- und Wunschformel ableiten. Das Interesse des Arbeitgebers, seine innere Einstellung zu dem Arbeitnehmer sowie seine Gedanken- und Gefühlswelt nicht offenbaren zu müssen, ist dabei höher zu bewerten als das Interesse des Arbeitnehmers an einer Schlussformel. Dies gilt auch für Zeugnisse mit einer weit überdurchschnittlichen Bewertung.
2. Der Arbeitgeber ist an den Inhalt eines erteilten Zeugnisses jedoch grundsätzlich gebunden. Von den in ihm enthaltenen Wissenserklärungen des Arbeitgebers zum Verhalten oder zur Leistung des Arbeitnehmers kann er nur dann abrücken, wenn ihm nachträglich Umstände bekannt werden, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen. Das ergibt sich auch aus dem Rechtsgedanken des Maßregelungsverbots (§ 612a BGB). Der Arbeitgeber ist deshalb nicht befugt, vom Arbeitnehmer nicht beanstandete Teile des Zeugnisses grundlos über die zu Recht verlangten Berichtigungen hinaus zu ändern. Dies gilt auch für eine erteilte Dankes-, Bedauerns- und Wunschformel.
3. Dass das Arbeitsverhältnis bei Erteilung des (berichtigten) Zeugnisses nicht mehr besteht, hindert nicht die Anwendung des Maßregelungsverbotes.
Quelle → LAG NIEDERSACHSEN / VOLLTEXT / URTEIL
Hinweis → Revision anhängig beim BAG zum Aktenzeichen 9 AZR 272/22 (Stand 23.10.2022)
Und das BAG urteilt nun wie folgt:
BAG, Versäumnisurteil vom 06.06.2023 – 9 AZR 272/22
1. Weder § 109 Abs. 1 Satz 3 GewO noch § 241 Abs. 2 BGB verpflichten den Arbeitgeber dazu, dem Arbeitnehmer ein Arbeitszeugnis zu erteilen, das mit einer sog. Dankes- und Wunschformel endet.
2. Verlangt ein Arbeitnehmer zu Recht von dem Arbeitgeber, das ihm erteilte Zeugnis abzuändern, darf der Arbeitgeber dies nur dann zum Anlass nehmen, den Zeugnisinhalt zu Lasten des Arbeitnehmers zu ändern, wenn sachliche Gründe ein Abweichen als angemessen erscheinen lassen. Andernfalls verstößt er gegen das arbeitsrechtliche Maßregelungsverbot. Dies betrifft auch die sog. Dankes- und Wunschformel.
BAG, Urteil vom 01.06.2022 – 7 AZR 151/21
Befristung aufgrund Eigenart der Arbeitsleistung – Tätigkeit als Führungskraft (hier Geschäftsführender Direktor in Klinikum) stellt keinen Befristungsgrund dar
1. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Befristung eines Arbeitsvertrags gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich auf die Umstände im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen.
2. Der Sachgrund der Eigenart der Arbeitsleistung im Sinne von § 14 I 2 Nr. 4 TzBfG kann die Befristung eines Arbeitsvertrags jenseits besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen nur rechtfertigen, wenn die Arbeitsleistung Besonderheiten aufweist, aus denen sich ein berechtigtes Interesse der Parteien, insbesondere des Arbeitgebers, ergibt, statt eines unbefristeten nur einen befristeten Arbeitsvertrag abzuschließen. Diese besonderen Umstände müssen das Interesse des Arbeitnehmers an der Begründung eines Dauerarbeitsverhältnisses überwiegen (Rn. 21).
3. Tätigkeiten als Führungskraft oder in leitenden Positionen rechtfertigen die Befristung des Arbeitsvertrags nicht aufgrund der Eigenart der Arbeitsleistung.
Ein berechtigtes – und das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers überwiegendes – Befristungsinteresse des Arbeitgebers folgt grundsätzlich weder aus einer herausgehobenen Position des Arbeitnehmers im Rahmen der Organisation des Unternehmens noch aus daraus folgenden Befugnissen. Auch eine weitgehende Weisungsfreiheit des Arbeitnehmers rechtfertigt kein spezifisches Befristungsinteresse (Rn. 38).
BAG, Urteil vom 25.05.2022 – 4 AZR 454/21
Tarifverträge – Auslegung auch abweichend von ihrem Wortlaut
Bei der Auslegung von Tarifverträgen besteht eine Bindung an den möglichen Wortsinn dann nicht, wenn sich aus dem Gesamtzusammenhang der Tarifnormen das Vorliegen eines Redaktionsversehens ergibt. Von einem solchen geht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus, wenn die Tarifvertragsparteien lediglich versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen haben, als sie beabsichtigten (st. Rspr., zu den Anforderungen BAG 11. November 2020 – 4 AZR 210/20 – Rn. 36; 19. Juni 2018 – 9 AZR 564/17 – Rn. 32; 5. Juli 2017 – 4 AZR 831/16 – Rn. 31; 13. Dezember 1995 – 4 AZR 615/95 – zu II 4 der Gründe, BAGE 82, 1; 31. Oktober 1990 – 4 AZR 114/90 – BAGE 66, 177).
LAG Baden-Württemberg vom 22.2.2022, 11 Sa 46/21
Sonderzahlung – Weihnachtsgeld – betriebliche Übung – Synallagma – durchgehende Arbeitsunfähigkeit
1. Will der Arbeitgeber mit einer Sonderzahlung andere Zwecke als die Vergütung der Arbeitsleistung verfolgen, muss sich dies deutlich aus der zugrundeliegenden Vereinbarung ergeben, weil diese ja vom gesetzlich geregelten Synallagma abweicht (Stichwort: Positive Bestätigung).
2. Teilt der Arbeitgeber nicht mit, unter welchen Voraussetzungen die Sonderzahlung (Urlaubs- bzw. Weihnachtsgeld) geleistet wird, ist anzunehmen, dass es sich um eine im Synallagma stehende Leistung handelt.
3. Das führt jedoch dazu, dass Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des Klägers nicht berücksichtigt werden können, wenn diesbezüglich eine Zurechnung zum Arbeitgeberrisiko durch Gesetz oder Kollektivvereinbarung nicht erfolgt ist.
Quelle → VOLLTEXT / LAG Baden-Württemberg
LAG MV, Urteil vom 18.01.2022 – 2 Sa 85/21
Außerordentliche Kündigung – Verdachtskündigung – Tatkündigung – Kenntnis von den Kündigungsgründen
1. Ein Anspruch auf Vergütung nach einer höheren tariflichen Entgeltgruppe in einem Haustarifvertrag aufgrund einer nicht nur vorübergehenden Übertragung einer Tätigkeit einerseits und ein Anspruch auf Gewährung einer persönlichen Zulage wegen der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit andererseits bilden zwei unterschiedliche Streitgegenstände (BAG, Urteil vom 20.03.2019 – 4 AZR 595/17 – Rn. 23, juris).
2. Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind, oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nur dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Vereinbarungen ausdrücklich zulässt.
LAG Köln, Urteil vom 11.01.2022, 4 Sa 315/21
Zugang einer E-Mail – Darlegungs- und Beweislast
Den Absender einer E-Mail trifft gemäß § 130 BGB die volle Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die E-Mail dem Empfänger zugegangen ist. Ihm kommt nicht dadurch die Beweiserleichterung des Anscheinsbeweises zugute, dass er nach dem Versenden keine Meldung über die Unzustellbarkeit der E-Mail erhält.
LAG Baden-Württemberg vom 30.06.2020 – 9 Sa 13/20
Anspruch auf Weihnachts- und Urlaubsgeld trotz langandauernder Erkrankung?
1. Mit welchem Inhalt eine konkludente Vertragsänderung durch vorbehaltlose Zahlung einer Sonderzahlung zustande gekommen ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Maßgeblich ist dabei der ebenfalls durch Auslegung zu ermittelnde verfolgte Zweck der Sonderzahlung (, v. 13.5.2015 – 10 AZR 266/14NZA 2015, 992 = NJW 2015, 3326).
2. Die Beweislast für die maßgeblichen Tatsachen, die zur Auslegung einer konkludenten vertraglichen Vereinbarung über Sonderzahlungen entweder als Vergütung für geleistete Arbeit einerseits oder andererseits als Zahlung, mit der (auch) andere Zwecke verfolgt werden trägt jeweils derjenige, der sich auf entsprechende Voraussetzungen der Sonderzahlung beruft.
3. Macht der Arbeitnehmer geltend, dass ihm der Anspruch auf Zahlung eines „Weihnachtsgeldes“ auch bei mehrjähriger Erkrankung ohne Entgeltfortzahlung zusteht, da es sich um eine Vergütung mit Mischcharakter handelt, trägt er die Beweislast für einen solchen Inhalt einer vertraglichen Vereinbarung bzw. betrieblichen Übung.
Quelle: Leitsätze aus NZA-RR 2020, 627
LAG Hessen, Urteil vom 19.6.2020 – 14 Sa 1366/19
Kein Anspruch auf anteiliges 13. Monatsgehalt in Freistellungszeitraum
Wird ein Mitarbeiter aufgrund einer Zeitwertkonto-Vereinbarung freigestellt, steht ihm für den Freistellungszeitraum anteilig kein 13. Monatsgehalt zu, wenn das 13. Monatsgehalt in den Vorjahren nicht an der Entgeltumwandlung teilgenommen hat und somit nicht angespart wurde und der Mitarbeiter entsprechend dem Guthaben auf seinem Zeitwertkonto freigestellt wurde.
Der Arbeitsvertrag, der ein 13. Gehalt vorsieht, wird durch die Freistellungsvereinbarung temporär abgeändert, § 311 BGB.
BAG, Urteil vom 22.01.2019 – 9 AZR 45/16
Urlaubsabgeltung bei Tod des Arbeitnehmers im laufenden Arbeitsverhältnis
Endet das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers, haben dessen Erben nach § 1922 Abs. 1 BGB iVm. § 7 Abs. 4 BUrlG Anspruch auf Abgeltung des von dem Erblasser nicht genommenen Urlaubs.
ArbG Berlin, Urteil vom 05.10.2012, 28 Ca 10243/12
Weisungsrecht des Arbeitgebers bei Arbeitszeitänderung – angemessene Ankündigungsfrist – Androhung einer Krankheit als Druckmittel
Hat der Arbeitgeber sein Recht auf Konkretisierung der zeitlichen Lage des Arbeitseinsatzes eines Teilzeitbeschäftigten (§ 106 Satz 1 GewO) per Dienstplan ausgeübt (hier: Einteilung zum Spätdienst), so kann er von seiner diesbezüglichen Leistungsbestimmung nicht ohne Rücksicht auf dessen Belange wieder einseitig abrücken (hier: Schichttausch zum Frühdienst).
Er hat dem Adressaten gegenüber insbesondere eine den Umständen nach angemessene Ankündigungsfrist einzuhalten. Für die Bemessung dieser Frist kann im Grundsatz auf die Regelung des § 12 Abs. 2 TzBfG (vier Tage im voraus) zurückgegriffen werden. Ist der Adressat hiernach nicht verpflichtet, der geänderten Anordnung des Arbeitgebers Folge zu leisten, so kann dieser die Weigerung auch dann nicht mit fristloser Kündigung beantworten, wenn der Adressat ihm bei Aufrechterhaltung des Änderungswunschs die “Krankschreibung” in Aussicht gestellt hat.
BAG, Urteil vom 22.02.2012 – 5 AZR 249/11
Annahmeverzugslohn nach unwirksamer Arbeitgeberkündigung
Amtlicher Leitsatz:
Der Arbeitnehmer ist an eine Weisung des Arbeitgebers, die nicht aus sonstigen Gründen unwirksam ist, vorläufig gebunden, bis durch ein rechtskräftiges Urteil gem. § 315 III 2 BGB die Unverbindlichkeit der Leistungsbestimmung festgestellt wird.
Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG
1. Wendet der Arbeitgeber gegen die Forderung von Annahmeverzugsvergütung die fehlende Leistungsfähigkeit oder den fehlenden Leistungswillen des Arbeitnehmers ein, hat er dazu entsprechende Indizien vorzutragen. Die Erschütterung der Indizwirkung ist Sache des Arbeitnehmers.
2. War der Arbeitnehmer vor Ausspruch einer ordentlichen Arbeitgeberkündigung längerfristig arbeitsunfähig, begründet das zeitliche Zusammenfallen von Ablauf der Kündigungsfrist und behauptetem Ende der Arbeitsunfähigkeit eine Indizwirkung dafür, dass der Arbeitnehmer über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus arbeitsunfähig war.
3. Der vor Ausspruch einer Kündigung leistungsunwillige, die Arbeit verweigernde Arbeitnehmer muss einen wieder gefassten Leistungswillen gegenüber dem Arbeitgeber kundtun. Dazu ist es regelmäßig erforderlich, den neu gewonnenen Leistungswillen im Rahmen des Zumutbaren durch ein tatsächliches Angebot zu dokumentieren.